YANGON: Bereits 2010 hatte der Militärrat in Myanmar die Wehrpflicht beschlossen - das Gesetz wurde aber nie in Kraft gesetzt. Bis jetzt. In dem Krisenland geht die Angst um.
Doe Doe ist erst 19 Jahre alt, aber in seinem jungen Leben hat er schon schwere und folgenreiche Entscheidungen treffen müssen. Als sich das Militär in seiner Heimat Myanmar 2021 an die Macht putschte, brach er kurz vor seinem geplanten Abschluss die Schule ab. Einem von der Junta kontrollierten Schulsystem wollte er sich nicht unterordnen. Nachdem die Generäle nun angekündigt haben, ein bisher inaktives Gesetz zur Wehrpflicht durchzusetzen, hat er sich in der Stadt Mandalay den «Volksverteidigungskräften» (PDF) angeschlossen, die in vielen Landesteilen die Armee bekämpfen.
«Meinen Eltern habe ich davon nichts erzählt», sagte er der Deutschen Presse-Agentur am Telefon. «Jetzt nehme ich hier an einer Kampfausbildung teil - es ist Zeit, dass wir uns endlich wehren.» Noch während er spricht, sind plötzlich Kampfflugzeuge zu hören, die Bomben abwerfen. Durch das Telefon sind Schreie zu hören.
Das Militär in Myanmar kämpft seit dem Umsturz und der Entmachtung von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi erbarmungslos gegen das eigene Volk. Da wundert es nicht, dass die geplanten Pflichtrekrutierungen eine Massenflucht ausgelöst haben. Bei vielen herrscht Panik. Sie befürchten, bald aus ihren Häusern heraus zum Militärdienst eingezogen zu werden und dann für die verhassten Tatmadaw, wie die Streitkräfte im früheren Birma genannt werden, kämpfen zu müssen - gegen all ihre Überzeugungen.
Denn dem Militär, das mittlerweile als geschwächt gilt, fehlt es an freiwilligem Nachwuchs. Die Armee musste in den vergangenen Monaten teils schwere Verluste hinnehmen, weil bewaffnete Milizen in vielen Landesteilen zunehmend die Oberhand gewinnen.
Besonders heftige Kämpfe gab es Ende vergangenen Jahres im nördlichen Shan-Staat an der Grenze zu China, einer für Drogenhandel und Glücksspiel bekannten, als gesetzlos geltenden Region. Innerhalb weniger Tage hatte dort die sogenannte Bruderallianz - ein Guerilla-Bündnis aus drei ethnischen Gruppen - die Kontrolle über wichtige Handelsrouten nach China sowie über mehr als 180 Stützpunkte und Außenposten gewonnen.
Die Wehrpflicht soll ab April in Kraft treten. Männer im Alter zwischen 18 und 45 Jahren und Frauen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren sollen für mindestens zwei Jahre eingezogen werden. Bestimmte Fachleute, wie Ärzte und Ingenieure, müssen sogar drei Jahre zum Militär. Laut Gesetz kann der Wehrdienst auch auf fünf Jahre verlängert werden. Wer sich weigert, dem drohen mehrere Jahre Haft.
Nach Angaben des Militärs betrifft das Gesetz etwa 14 Millionen Bürger und Bürgerinnen: 6,3 Millionen Männer und 7,7 Millionen Frauen. Insgesamt hat Myanmar etwa 55 Millionen Einwohner. Zunächst sollen monatlich rund 5000 Menschen zum Wehrdienst eingezogen werden.
Zehntausende vor allem junge Menschen versuchen derzeit, ihre Heimat zu verlassen - unter anderem in Richtung Kambodscha oder Laos. Die meisten aber wollen nach Thailand. Denn in dem Nachbarland haben viele Verwandte und Freunde, die bereits im Zuge des Putsches in das Nachbarland geflohen waren.
Vor der Visastelle der thailändischen Botschaft in der ehemaligen Hauptstadt Yangon (früher: Rangun) und anderen Behörden bilden sich seit Tagen lange Warteschlangen. In Mandalay waren kürzlich bei einer Massenpanik vor dem Passamt zwei Frauen ums Leben gekommen. Andere machen sich auf den Weg, um illegal die Grenze zu überqueren.
Einer von ihnen ist der 27-jährige Kyaw Kyaw. Vor dem Putsch arbeitete er in einer staatseigenen Bank. Zuletzt war er Lehrer in einem privaten Internat in Myitkyina, der Hauptstadt des nördlichen Kachin-Staates an der Grenze zu China. Als er sich weigerte, für das Militär zu arbeiten, und sich stattdessen dem Protest der «Bewegung des Zivilen Ungehorsams» (CDM) anschloss, wurde ihm sein Reisepass abgenommen. Legal kann er das Land deshalb nicht verlassen.
Um dem Wehrdienst zu entkommen, ist Kyaw Kyaw mittlerweile ins Grenzgebiet zwischen Myanmar und Thailand geflohen, das von der mächtigen «Karen National Union» (KNU) kontrolliert wird. Die KNU ist die älteste bewaffnete Gruppe im Vielvölkerstaat Myanmar. Seit mehr als 70 Jahren kämpft sie für die Freiheit und bietet seit dem Putsch vielen Binnenvertriebenen Schutz.
«Ich habe mich in Myitkyina nicht mehr sicher gefühlt, weil die Behörden mich suchten», erzählt Kyaw Kyaw. «Deshalb habe ich beschlossen, zu fliehen. Ich will nicht für das Militär kämpfen.» Nun will der junge Mann versuchen, illegal ins thailändische Mae Sot auf der anderen Seite der Grenze zu gelangen und dort ein neues Leben zu beginnen.
Warnungen des thailändischen Ministerpräsidenten Srettha Thavisin, der illegalen Flüchtlingen aus Myanmar mit rechtlichen Schritten drohte, schlägt er wie so viele andere in den Wind - kein Wunder, angesichts der Alternative, die ihn in der Heimat erwartet. «Anzeichen von Verzweiflung wie die Verhängung einer Wehrpflicht sind kein Hinweis darauf, dass die Junta und ihre Streitkräfte eine geringere Bedrohung für die Menschen in Myanmar darstellen», warnte zuletzt der UN-Sonderberichterstatter für Myanmar, Tom Andrews. Tatsächlich seien viele jetzt noch größeren Gefahren ausgesetzt.
So gibt es laut UN Berichte, wonach das Militär bereits jetzt junge Leute kidnappt und sie zwingt, als Träger zu arbeiten - oder sie sogar als menschliche Schutzschilde missbraucht. «Wir haben ständig Angst. Wir trauen uns nicht, nachts auf die Straße zu gehen», sagte ein 35-jähriger Grafikdesigner aus Yangon.
Doe Doe hofft derweil, dass er vielleicht irgendwann doch noch seinen Schulabschluss machen kann. «Ich bin überzeugt, dass wir am Ende gewinnen werden. Das glauben alle hier», sagt er. «Die Junta kann so mit uns nicht umgehen, das Volk wird zurückschlagen.»