Vier Jahre danach - wie der Putschversuch die Türkei bis heute prägt

Zum gescheiterten Putschversuchs auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul riefen die Menschen am 15. Kuli 2016 mit türkischen Flaggen Parolen. Foto: epa/Erdem Sahin
Zum gescheiterten Putschversuchs auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul riefen die Menschen am 15. Kuli 2016 mit türkischen Flaggen Parolen. Foto: epa/Erdem Sahin

ISTANBUL: Der Putsch am 15. Juli 2016 in der Türkei ist gescheitert. Die Konsequenzen aber bekommen etliche Menschen in der Türkei auch heute noch zu spüren. Über Hintergründe, Profiteure und Gerüchte.

Vier Jahre nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan ist nichts wie vorher. Noch immer laufen zahlreiche Verfahren gegen mutmaßliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, die die Regierung für den Putschversuch verantwortlich macht. Wie hat der 15. Juli 2016 Politik und Gesellschaft verändert?

Was ist in der Putschnacht passiert?

Am Abend des 15. Juli 2016 hatten Teile des Militärs gegen die Regierung Erdogan geputscht. In Istanbul und der Hauptstadt Ankara gab es Gefechte zwischen Putschisten und regierungstreuen Sicherheitskräften. Die Putschisten setzten Panzer und Kampfjets ein und feuerten unter anderem auf Zivilisten, die sich ihnen entgegenstellten und damit einem Aufruf Erdogans folgten. Auch das Parlamentsgebäude in Ankara wurde beschossen. Mehr als 250 Menschen wurden getötet, 2000 verletzt. Der Aufstand wurde schließlich niedergeschlagen.

Wie hat die Regierung reagiert?

In sogenannten «Säuberungen» ging die Regierung gegen mutmaßliche Putschisten und Anhänger des in den USA lebenden sunnitischen Predigers Fethullah Gülen, aber auch gegen Oppositionelle vor. Per Dekret wurden mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen und Zehntausende Menschen verhaftet. Erdogan ließ nach dem Putschversuch mehr als 100 Medien und Verlage schließen. Kritiker monieren, dass Gülen-nahe AKP-Mitglieder aber verschont blieben.

«Seit dem Putschversuch können wir eine verstärkte Autokratisierung des Landes beobachten, weil die jetzige Regierung die demokratischen Institutionen erodiert hat», sagt Hürcan Asli Aksoy, stellvertretende Leiterin des Centrum für angewandte Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik. Etliche Gerichtsverfahren laufen noch. Noch immer gibt es regelmäßig Razzien. «Besonders Militär und Polizei stehen dabei im Fokus», so Aksoy. Ziel sei es, die Menschen politisch und sozial auszuschließen.

Was wirft Ankara Gülen und seinen Anhängern vor?

Die Regierung wirft Fethullah Gülen und der nach ihm benannten Bewegung vor, hinter dem Putschversuch zu stecken. Gülen bestreitet das. Seine von Ankara als Fetö bezeichnete Organisation steht in der Türkei auf der Terrorliste. Die Gülen-Bewegung soll unter anderem den Staat unterwandert haben. Bis zum offenen Bruch 2013 waren Erdogan und Gülen lange Zeit enge Weggefährten gewesen.

Um als Unterstützer einer terroristischen Organisation zu gelten, reiche es häufig aus, bei einer der zahlreichen Gülen-nahen Institutionen beschäftigt gewesen zu sein, «oder ein Konto bei einer Bank gehabt zu haben, die in Verbindung mit Gülen stand», sagt Aksoy.

Wer hat von dem Putsch profitiert?

Erdogan hatte kurz nach dem Umsturzversuch den Ausnahmezustand ausgerufen, der sieben Mal verlängert wurde und erst im Juli 2018 endete. In der Zeit hat der AKP-Politiker mit Dekreten am Parlament vorbeiregieren können. Seit der Einführung des Präsidialsystems 2017 hat Erdogan ohnehin weitreichende Vollmachten. Der Putsch habe besonders die nationalistischen Kräfte im Land gestärkt, meint Aksoy. Neben der AKP selbst, ihren Anhängern und die mit der AKP verbündete ultranationalistische MHP treffe das zum Beispiel auch für die Kleinstpartei Vatan Partisi zu. «Wurden neben mutmaßlichen Gülen-Anhängern alevitische oder kurdische Menschen entlassen, sind meist Leute aus dem nationalistischen Lager auf ihre Stellen gerückt.»

Wie läuft die Aufarbeitung der Geschehnisse vom 15. Juli 2016?

Die Regierung hat eine Aufarbeitung der Putschnacht bisher erfolgreich verhindert, eine unabhängige Auseinandersetzung gibt es nicht. Unter anderem die Opposition moniert das Fehlen der Gewaltenteilung. «Gerichte sind politisiert, darum ist es schwierig, die Aufarbeitung derzeit anders zu gestalten», sagt Aksoy.

2017 wurde eine Kommission ins Leben gerufen, die die Entlassung der Staatsbediensteten untersucht. Betroffene können hier eine Prüfung veranlassen. Laut Medienberichten von Anfang Juli haben 126.000 Menschen Beschwerde bei der Kommission eingereicht. 96.000 seien abgelehnt worden, 12.200 hätten ihre Jobs im Staatsdienst wieder aufnehmen können. Laut der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu waren Anfang Juli 275 der 289 sogenannten Fetö-Prozesse abgeschlossen, 14 würden weiterhin verhandelt. 4130 Angeklagte seien verurteilt worden, davon 2332 zu Lebenslang.

Wer steckt hinter dem Putsch?

Erdogan sagte am Morgen des 16. Juli, der Putschversuch sei «letztendlich ein Segen Gottes». Diese Aussage und das entschiedene Vorgehen der Regierung gegen Kritiker schürte das Gerücht, der Putsch sei von Erdogan selbst inszeniert. Stichhaltige Beweise dafür gibt es aber keine.

Auch ein Großteil der Opposition geht davon aus, dass die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch steckt, fordert aber eine detaillierte Aufarbeitung der Nacht. So sei etwa nicht klar, ob und - wenn ja - welche Verbindungen die Putschisten in die Politik gehabt hätten. Die Partei CHP spricht von einem «kontrollierten Putsch» und meint damit, Erdogan habe vorher von den Plänen gewusst und die Situation für sich ausgenutzt.

Vom Bundesnachrichtendienst hieß es 2017, man sei nicht überzeugt, dass Gülen die Strippen gezogen habe. Damit steht die Behörde nicht alleine da. Der Auswärtige Ausschuss des britischen Parlaments stellte fest, der Putschversuch sei von Militärs geplant worden, die um ihre Positionen gebangt hätten - darunter wohl auch einige Gülen-Anhänger.

Welche Macht hat FethullahGülen in der Türkei?

Der investigative Journalist und Autor Ahmet Sik warnte schon vor dem Putschversuch vor einer Unterwanderung staatlicher Stellen durch Gülen. Ziel der Gülen-Gemeinde sei es, die Bürokratie des Staates zu übernehmen und die Sicherheit zu kontrollieren, sagt Sik. Er nannte die Bewegung damals «eine heilige Mafia», kritisierte aber auch die jahrelange Förderung Gülens durch die AKP.

«Die Gülen-Bewegung war sehr stark in der Türkei», sagt auch Aksoy. Nach dem harten Vorgehen gegen ihre Anhänger könne die Gülen-Bewegung in der Türkei aber nur schwierig wieder Fuß fassen.

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