Geschichten aus Siam

Die Tagebücher eines Holländers bieten einenfaszinierenden Einblick in das Goldene Zeitalter Ayutthayas

Geschichten aus Siam

Am 10. Dezember 1636 unternahm eine Gruppe von zwölf Holländern eine Bootsfahrt auf dem Chao Phraya. Dabei wurde offenbar zuviel Alkohol konsumiert; jedenfalls waren sie bald stark angetrunken und erregten in einem der heiligsten buddhistischen Tempel Ayutthayas ein öffentliches Ärgernis, das sich bald zum Skandal ausweitete. Sie benahmen sich absichtlich bösartig und gehässig gegenüber allen Siamesen, die ihnen über den Weg liefen. Die einen beschimpften sie mit üblen Ausdrücken, andere schlugen sie und drangen sogar in Häuser ein, um sich dort zu verköstigen.

Als König Prasat Thong von dem „Picknick-Vorfall“ hörte, war er aufs höchste erzürnt. Er liess alle beteiligten Holländer festnehmen und verurteilte sie zum Tode. Die Vollstreckung bestand in diesen Zeiten darin, dass sie von Elefanten zu Tode getrampelt wurden. Ausserdem verhängte König Prasat Thong harte Beschränkungen aller Handelsaktivitäten gegen die Niederländische Ost-Indien-Company in Ayutthaya.

Zu dieser Zeit war Jeremias van Vliet (1602 - 1663) amtierender Direktor dieser niederländischen Handelsgesellschaft in Ayutthaya. Wie sollte er in dieser bedenklichen Situation reagieren, um erstens das Leben seiner Landsleute zu retten und zweitens die lukrativen Handelsaktivitäten seiner Dutch East India Company zu schützen Van Vliet verbrachte einen vollen Monat mit den Versuchen, diesen Konflikt zu lösen. Sein unmittelbarer Chef, Joost Schouten, befand sich auf Geschäftsreise in Batavia, so dass van Vliet in dieser Situation die volle Verantwortung allein übernehmen musste. In seinem Tagebuch trug er täglich Berichte über den Fortgang des Falles ein. Sie wurden später als „Tagebuch des Picknick-Zwischenfalles“ bekannt. Es stellte sich heraus, dass es sich um äusserst anschauliche Berichte handelte, die interessante Einblicke in eine der spektakulärsten Perioden während der Regentschaft von König Prasat Thong gewährten, der von 1629 bis 1656 an der Macht war.

Sechs Wochen später fühlte sich van Vliet dazu verpflichtet, dem König eine offizielle Entschuldigung anzubieten. Er ersuchte um eine Audienz mit König Prasat Thong in dessen Palast. Auf seinen Knien rutschte er vor dem König, wobei er eine Schale mit Reis und Blumen in den Händen trug, die der dann über seinem Kopf entleerte. Van Vliet verdrängte diese Erniedrigung mit einem Achselzucken und setzte seine erfolgreiche Karriere unbeirrt fort.

Insgesamt schrieb er vier Bücher über Siam, wo er schliesslich neun Jahre, zwischen 1633 und 1642, gelebt hat. Ausser dem „Tagebuch des Picknick-Zwischenfalls“ (1636 - 37) schrieb van Vliet noch drei andere Bücher: „Beschreibung des Königreiches von Siam“ (1638), „Kurzdarstellung der Könige von Siam“ (1640) und „Die geschichtliche Bedeutung von König Prasat Thong“ (1640). Die Tagebücher sind jetzt in handlicherem Format auf Englisch unter dem Gesamttitel „Van Vliet´s Siam“ erhältlich. Chris Baker, Dhiravat Na Pombejra, Alfons van der Kraan und David K. Wyatt schlossen sich zu einem Team zusammen, um alle Schriften van Vliet´s zusammenzustellen und zu veröffentlichen. Indem sie ein Licht auf das Leben in der mittleren Ayutthaya-Periode werfen, sollen sie den Menschen der heutigen, modernen Zeit das Verständnis für die damaligen Geschehnisse erleichtern. Herausgeber der Sammlung ist der Verlag Silkworm Books.

An einem der vergangenen Wochenenden hielt die History Society in Bangkok ein spezielles Seminar ab, zu dem sie auch Baker und Dhiravat eingeladen hatte. Baker, der fliessend Thai mit Cambridge-Akzent spricht, sagte bei diesem Anlass, er glaube, dass sich der Picknick-Zwischenfall im Wat Worachet abspielte, das van Vliet Boeretiet nannte. Dieser Tempel befindet sich ungefähr einen Kilometer westlich, ausserhalb des Festungsgrabens, der Ayutthaya damals umgab. Baker hat die ehemalige Hauptstadt Siams mehrmals besucht, um die Örtlichkeiten zu untersuchen. Baker betrachtet van Vliet als eine gebildete Persönlichkeit, die sich nicht nur als Handelskaufmann auszeichnete, sondern auch über ein gutes Wissen in den Bereichen Geschichte und Philologie verfügte.

Nachdem van Vliet dem Generalgouverneur der Niederländischen Ost-Indien-Company, Anthonio van Diemen, über den Picknick-Zwischenfall berichtet hatte, wollte dieser ihn anfänglich bestrafen. In seinem Antwortschreiben hiess es unter anderem: „Ich kann nicht begreifen, welche Art von Blut durch Ihre Venen fliesst. Wenn ich lese, wie Sie all diese schändlichen und beschämenden Beleidigungen hingenommen haben, wie Sie, was am allerschlimmsten ist, sich selbst erniedrigt haben und wie ein Delinquent auf dem Flur herumgekrochen sind und um Vergebung für Ihre Missetaten bettelten, die sie dann auch dankbar angenommen haben, als ob sie von Gott selbst käme..... Eine Komödie, die sie mit Ihnen gespielt haben. Die haben Sie am Nasenring gehalten, wie sie es mit ihren Büffeln tun, und Sie dahin geführt, wohin sie Sie haben wollten.“ Van Vliet wurde nach Batavia vorgeladen, um dem Generalgouverneur persönlich zu berichten. Doch er hatte Glück, denn bei seiner Ankunft war van Diemen gerade anderweitig unterwegs.

Daraufhin verfasste van Vliet die „Beschreibung des Königreiches von Siam“, nur um seine Karriere zu retten. In diesem Bericht schrieb er unter anderem: „Siam ist ein Land, das von allen Dingen, die Menschen zum Leben benötigen, mehr besitzt als die meisten anderen Länder“. Und er qualifizierte die Tapferkeit des Militärs von Ayutthaya herab: „Die Siamesen sind schlechte Soldaten.... die Siamesen sind schlechte Seeleute“, schrieb er. Er ging sogar so weit, eine politische oder militärische Intervention in Ayutthaya zu empfehlen. Er beschrieb König Prasat Thong als einen betrunkenen König, der mit Überspanntheit und Zügellosigkeit regiert. Doch „er wird von seinen Untertanen mehr als ein Gott verehrt und angebetet“, heisst es bei van Vliet. Er suggerierte seinen Vorgesetzten in der Niederländischen Ost-Indien-Company, dass die Hauptstadt „einer europäischen Armee nicht würde standhalten können“ und daher leicht einzunehmen wäre.

„Die Freundschaft, die von den Königen Siams stets in Ehren gehalten und lobenswert gepflegt wurde, hat in der Zeit der Herrschaft dieses thronräuberischen Königs stark gelitten und ist fast nicht mehr vorhanden. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird diese Freundschaft auch nie wieder so florieren wie zuvor, solange diese feige Nation nicht zur Vernunft gebracht und die Schmach, die man uns angetan hat, nicht mit dem Schwert abgewaschen wird, wobei uns Gott der Allmächtige helfen möge“, schrieb van Vliet.

Auch die „Kurzdarstellung der Könige von Siam“ stellt einen grossen historischen Wert dar. Er zeichnete die Regentschaften der Könige von Ayutthaya auf, von König U-Thong bis König Prasat Thong, dem 25. Herrscher der Ayutthaya-Periode. Es stellte sich heraus, dass es der früheste zusammenhängende Bericht über Ayutthaya war. Er entstand sogar noch vor der „Luang Prasert Chronik“.

Sein historischer Bericht über König Prasat Thong ist in gleichem Masse interessant. Die Spezialisten Dhiravat und Baker sind der Meinung, dass van Vliet den Rahmen einer Renaissance-Tragödie benutzte und bei der Beschreibung des Königs in die Ausdrucksweise von Machiavelli verfiel.

Manchmal halten es Könige für notwendig, ihre Widersacher erbarmungslos zu vernichten, um ihre Reiche zu erhalten und andere gute Ziele erreichen zu können. König Prasat Thong passte offenbar genau in diese Schablone, denn er säuberte sein Reich von allen politischen Gegnern und errichtete ein Regime des Terrors. Doch auf der anderen Seite führte er Ayutthaya zu weiterem Wohlstand und Stabilität.

Van Vliet hatte drei Töchter mit einer Angehörigen des Volksstammes der Mon mit dem Namen Osoet Pegua. Als er Siam verliess, durfte er diese Töchter nicht mit sich nehmen. Bei der Niederländischen Ost-Indien-Company durchlief er noch eine glänzende Karriere, trat dann in den Ruhestand und führte ein komfortables Leben. Er kehrte in seine holländische Heimatstadt zurück und starb dort 1663 im Alter von 61 Jahren.

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