Fünf Jahre nach dem Terror in Brüssel

​«Hass darf es nicht geben»

Archivfoto: Wikipedia
Archivfoto: Wikipedia

BRÜSSEL: Sabine Borgignons und Manuel Martinez wären sich normalerweise wohl nie begegnet. Heute kämpfen die beiden Überlebenden der Terroranschläge in Brüssel vor fünf Jahren für ihre Rechte - und gegen das Vergessen.

22. März 2016, 9.11 Uhr - an den Moment, der ihr Leben für immer veränderte, kann sich Sabine Borgignons nicht erinnern. Erst Wochen später sah sie auf Videoaufnahmen, was geschehen war: Die Belgierin war mit einer Metro in der Brüsseler Innenstadt unterwegs, als eine Bombe explodierte. «Auf den Videos ist zu sehen, dass ich direkt neben demjenigen saß, der die Explosion ausgelöst hat», sagt sie. «Ich saß direkt neben ihm.»

Die 46-Jährige gehört zu den rund 300 Verletzten der Anschläge. Insgesamt 35 Menschen starben, darunter drei islamistische Attentäter. Gut eine Stunde, bevor die Bombe in der Metrostation Maelbeek im EU-Viertel hochging, waren zwei Bomben im Flughafen Zaventem der belgischen Hauptstadt explodiert. Die Anschläge reihten sich ein in eine islamistische Terrorserie: Im November 2015 starben 130 Menschen bei Attentaten in Paris. Im Dezember 2016 tötete ein Terrorist zwölf Menschen in Berlin.

Die Folgen des Terrors sind noch heute in der belgischen Hauptstadt sichtbar: Schwer bewaffnete Polizisten und Soldaten gehören gerade im Europaviertel zum Straßenbild, auch wenn die Angst nachgelassen hat und inzwischen wieder die Terrorwarnstufe zwei gilt - ein Anschlag wird damit als «wenig wahrscheinlich» eingeschätzt.

Borgignons hat bis heute keinerlei Erinnerung an das, was ihr in Maelbeek widerfahren ist. Weder an die U-Bahn, noch an das Krankenhaus, in dem sie behandelt wurde. Erst Wochen später setzen ihre Erinnerungen wieder ein - da hatte sie ein künstliches Koma hinter sich und war in eine andere Klinik verlegt worden. Ihr Körper war gezeichnet von Metallteilen, die sie «überall» verletzt hatten.

In der Klinik musste sie vieles von Neuem lernen - und begreifen, was passiert war. «Es war wirklich schwierig für mich, zu realisieren, warum ich plötzlich Probleme beim Sprechen oder beim Laufen hatte», sagt sie. Erst nach und nach habe sie verstanden, dass es jetzt ein «Davor» und ein «Danach» in ihrem Leben gebe.

«Davor» habe sie Schmuck hergestellt, sagt Borgninons. Sie sei unabhängig gewesen. «Danach» könne sie wegen der Verletzungen nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten. Und ein Sozialleben aufrecht zu erhalten, falle ihr schwer. Von Menschen, die keinen Anschlag erlebt hätten, fühle sie sich mitunter unverstanden. «Manchmal selbst von anderen Opfern des Anschlags. Sie haben Erinnerungen, ich nicht.» Ein Gefühl der Einsamkeit? Ja, sagt sie. Und schweigt.

Verlassen fühlt sich auch Manuel Martinez, der vor fünf Jahren am Flughafen arbeitete, als dort zwei Bomben explodierten. «Niemand tut etwas für mich oder meine Situation», sagt der 44-Jährige, der ebenfalls bis heute körperlich unter dem Anschlag leidet: Auch nach 34 Operationen sei sein linkes Bein noch nicht wiederhergestellt. Er sei Invalide und könne nicht mehr arbeiten. In den vergangenen fünf Jahren habe er insgesamt 120.000 Euro vom Staat und Versicherungen bekommen, doch das reiche nicht: Er brauche eine Haushaltshilfe, Medikamente und müsse eigentlich sein Badezimmer umbauen lassen, damit es barrierefrei sei. Die Versicherung zahle nicht.

Martinez' Stimme wird lauter, wenn er von den Problemen mit Versicherungen spricht. Wie viele andere Opfer streitet er sich mit ihnen vor Gericht. Verteidigt werden die Überlebenden etwa von Anwälten des Opferschutzvereins «Life4Brussels», dessen Vize-Präsidentin Borgignons ist.

Zum 13-köpfigen Anwälte-Kollektiv, das für die Organisation tätig ist, gehört Valérie Gérard. Fragt man die Anwältin, welche Anlaufstellen es für Überlebende gebe, öffnet sie eine Grafik. Darauf zu sehen: Namen von Versicherungen, Gerichten und sehr viele rote Pfeile. «Es ist selbst für Juristen kompliziert. Für Menschen, die noch nie damit zu tun hatten, ist es noch schlimmer», sagt Gérard. Und der belgische Staat tue nichts, um das System zu vereinfachen.

Belgiens Justizminister Vincent Van Quickenborne sieht das anders. Die Regierung habe viel getan, um Opfern schneller Soforthilfen zukommen zu lassen, sagte er am Freitag im belgischen Parlament. Für eine Reform des Systems der Hilfeleistungen, etwa in Form eines gemeinsamen Fonds wie von Opfern gefordert, habe es im Parlament keine Mehrheit gegeben. Er gibt jedoch zu: «Trotz der vielen Initiativen müssen wir heute leider feststellen, dass viele Opfer noch nicht die vollständigen Versicherungssummen erhalten haben.»

Wie es den Überlebenden und Angehörigen in Zukunft geht, dürfte für Viele auch vom Verlauf der Prozesse gegen die Terroristen und deren Helfer abhängen. Zehn Beschuldigte müssen sich einem Schwurgericht verantworten. Der Prozess beginnt vermutlich erst im Herbst des kommenden Jahres. Ein anderer Termin steht den Überlebenden am Montag zum Jahrestag bevor: Dann werden der belgische Premierminister, das Königspaar und Opferorganisationen eine Schweigeminute abhalten.

Trotz der Gedenkfeier haben viele Überlebende das Gefühl, dass man sie vergisst. So geht es auch Sabine Borgignons. «Man denkt eine Woche vor dem Anschlag an uns und danach ist es wieder für ein Jahr vergessen», sagt sie. Dass Viele wütend seien, verstehe sie. Aber: «Hass darf es nicht geben. Denn der hat den Anschlag erst ausgelöst.»

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