Tichanowskaja ruft zu landesweitem Streik auf

Die belarussische Oppositionskandidatin für das Präsidentenamt, Swetlana Tichanowskaja, nimmt an einer Pressekonferenz in Vilnius teil. Foto: epa/Str
Die belarussische Oppositionskandidatin für das Präsidentenamt, Swetlana Tichanowskaja, nimmt an einer Pressekonferenz in Vilnius teil. Foto: epa/Str

Auch Lettland und Estland wollen eigene Belarus-Sanktionen verhängen

RIGA/TALLINN: Nach Litauen wollen auch Lettland und Estland unabhängig von der EU Sanktionen gegen die Führung in Belarus (Weißrussland) verhängen. Die Strafmaßnahmen sollen sich gegen Personen richten, die für die Fälschung der Präsidentenwahl und die Gewalt gegen friedliche Demonstranten verantwortlich gemacht werden. Dies teilten die Außenministerien in Riga und Tallinn am Freitag in einer gemeinsamen Erklärung mit.

Den Betroffenen soll die Einreise in die beiden baltische EU-Staaten verboten werden. Dazu sei von Estland und Lettland eine schwarze Liste erstellt worden, hieß es in der Mitteilung. Die nationalen Sanktionen sollen noch vor den bevorstehenden EU-Sanktionen verhängt werden. Die beiden Ostseestaaten forderten zudem eine «friedliche und rechtmäßige Lösung» der gegenwärtigen Krise in Belarus.

In Belarus kommt es wegen der von Fälschungsvorwürfen überschatteten Präsidentenwahl seit Tagen zu Massenprotesten. Sie haben das Ziel, den autoritär regierenden Staatschef Alexander Lukaschenko aus dem Amt zu drängen, der sich zum sechsten Mal in Folge zum Wahlsieger hat erklären lassen. Die Polizei ging vor allem zu Beginn der Proteste brutal gegen Demonstranten und friedliche Bürger vor.

Die EU-Staaten hatten sich bei einem Sondergipfel am Mittwoch darauf verständigt, das Wahlergebnis nicht anerkennen, und haben Sanktionen gegen Lukaschenkos Machtapparat auf den Weg gebracht. Litauen hatte zudem bereits eigene Strafmaßnahmen gegen die Führung in Minsk beschlossen.


Litauen: Große Nachfrage nach historischer Flagge von Belarus

VILNIUS: Litauen zeigt angesichts der Proteste nach der von Fälschungsvorwürfen überschatteten Präsidentenwahl in Belarus nicht nur politisch Flagge für die Opposition im Nachbarland. In dem baltischen EU-Land ist die Nachfrage nach der historischen weiß-rot-weißen Flagge von Belarus deutlich gestiegen. Die von Staatschef Alexander Lukaschenko vor rund einem Vierteljahrhundert abgeschaffte Fahne gilt als Symbol der Opposition.

«Wir verkaufen diese Flaggen seit Beginn der Ereignisse in Belarus. Es gibt viel Interesse», sagte der Leiter einer Fahnenfabrik in der Stadt Kaunas am Freitag dem Onlineportal 15min.lt. «Die historische Flagge von Belarus ist derzeit unser beliebtestes Produkt.» Gekauft werde sie sowohl einzeln als auch im Dutzend. Auch die drei anderen Fahnenhersteller in Litauen berichteten von mehr Auftragseingängen und einem verstärkten Absatz der Flagge. «Wir arbeiten Tag und Nacht», wurde ein Firmenchef in dem Beitrag zitiert.

Die Hersteller brachten die Nachfrage mit einer am Sonntag geplanten Solidaritätsaktion in Verbindung. Nach Vorbild des «Baltischen Wegs» von 1989 soll am 23. August eine Menschenkette von Vilnius an die litauisch-belarussische Grenze gebildet werden. Dafür statten sich nach Einschätzung der Firmen viele Litauer mit Flaggen aus.

Die weiß-rot-weiße Fahne besitzt enorme Symbolkraft. In Anlehnung an die Staatsflagge der Belarussischen Volksrepublik von 1918 wurde sie nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 zur Nationalflagge von Belarus. 1995 wurde sie unter Lukaschenko durch eine leicht veränderte Version der rot-grünen Flagge der weißrussischen Sowjetrepublik ersetzt.

Oft ist auf den weiß-rot-weiße Fahne auch noch das Wappen «Pahonja» zu sehen - ein weißer Reiter auf rotem Feld. Das Motiv geht auf das alte Großfürstentum Litauen zurück und ist auch das Staatswappen von Litauen, das eine lange gemeinsame Geschichte mit Belarus verbindet.


Maas würdigt «Sehnsucht nach Freiheit» in Belarus wie CSSR

BRATISLAVA: Am 52. Jahrestag der Invasion von Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei am 21. August 1968 hat Bundesaußenminister Heiko Maas am Freitag die slowakische Hauptstadt Bratislava besucht. «Die Sehnsucht nach Freiheit und einem guten Leben ist ein Grundbedürfnis vieler Menschen», sagte er. «Das gilt auch heute für die Menschen in Belarus, die Veränderungen in ihrem Land fordern.»

Vergleiche zwischen damals und heute seien dennoch schwer zu ziehen, schränkte Maas ein. Der «Prager Frühling» 1968 sei ein «einzigartiges und unvergleichliches Ereignis» gewesen, das ganz Europa fasziniert habe.

Den Demonstranten in Belarus zollte Maas Anerkennung: «Sie haben in den letzten Tagen außerordentlichen Mut gezeigt und sich außerordentlich eindrucksvoll Gehör verschafft.» Als Beispiel für Zivilcourage hob er auch den weißrussischen Botschafter in Bratislava, Igor Leschtschenja, hervor, der sich in einer Videobotschaft mit den Demonstranten in seiner Heimat solidarisiert und dann seine Funktion abgelegt hatte. Der slowakische Außenminister Ivan Korcok regte an, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE einzubinden. Deren «natürlichste» Aufgabe sei die Lösung solcher Konflikte.

Auf Journalistenfragen nach dem Fall des erkrankten russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny erklärte Maas, er könne «sehr, sehr schwer beurteilen», ob es stimme, dass medizinische Gründe dagegen sprechen, Nawalny nach Berlin zu transportieren. Das Angebot einer weiteren Behandlung des Patienten in Deutschland bleibe jedenfalls aufrecht, betonte der Bundesminister.

Außer Korcok traf Maas auch die slowakische Präsidentin Zuzana Caputova und den konservativen Regierungschef Igor Matovic. Kurz nach Mittag stand ein gemeinsames Gedenken mit Korcok und dem einstigen Dissidenten und jetzigen slowakischen Umweltminister Jan Budaj bei einem Denkmal für die Opfer der Invasion von 1968 auf dem Programm. Der damalige Einmarsch der sowjetischen und anderer Armeen des Warschauer Pakts beendete gewaltsam den vom slowakischen Reformkommunisten Alexander Dubcek geführten Prager Frühling, der die kommunistische Diktatur durch einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» ersetzen wollte.


Belarus-Protest: Tichanowskaja ruft zu landesweitem Streik auf

MINSK: Die Gegner des Machthabers Alexander Lukaschenko in Belarus (Weißrussland) haben zu einer Ausweitung der Streiks in den Staatsbetrieben im ganzen Land aufgerufen. «Streiks sind eine völlig legale und wichtige Waffe gegen das Regime», sagte die Anführerin der Demokratiebewegung, Swetlana Tichanowskaja, in einem per Video am Freitag verbreiteten Aufruf an die Mitarbeiter der Staatsbetriebe in der Ex-Sowjetrepublik. Durch die Streiks, die bereits seit Tagen laufen, soll dem Machtapparat die wirtschaftliche Basis entzogen werden. Tichanowskaja appellierte aus ihrem Exil im EU-Nachbarland Litauen an ihre Landsleute, sich nicht einschüchtern zu lassen von Drohungen Lukaschenkos.

Die autoritäre Führung hat den Arbeitern mit Entlassung gedroht, sollten sie die Arbeit niederlegen. Die Opposition spricht hingegen von einem Recht auf Streik. «Schließt Euch zusammen!», sagte Tichanowskaja. Schon jetzt hätten die Menschen durch die Einheit viel erreicht. Zugleich sicherte sie erneut jenen Hilfe zu, die durch die Streiks in Existenznot gerieten. Es sei inzwischen ein Millionenbetrag zusammengekommen, um Bedürftigen zu helfen. Die Spendenbereitschaft für den Solidaritätsfonds war demnach hoch.

Lukaschenko, den sie nie mit Namen nennt, versuche den Menschen das Land zu stehlen. «Um die Willkür zu beenden, müssen wir uns zusammenschließen», sagte Tichanowskaja. Ziele der Opposition seien ein Ende der Gewalt gegen Andersdenkende, die Freilassung aller politischen Gefangenen und faire und freie Neuwahlen für das Präsidentenamt. Lukaschenko hatte sich bei der Wahl am 9. August mit 80 Prozent zum Sieger erklären lassen. Die Opposition sieht dagegen Tichanowskaja als neue Präsidentin.

In der Bevölkerung machte sich unterdessen Panik breit, dass Konten gesperrt werden könnten, um Überweisungen zur Unterstützung der Demokratiebewegung zu verhindern. Es gab zahlreiche Berichte, dass Bürger aus Angst vor solchen Maßnahmen des Staates ihre Konten leerräumten. Eine offizielle Bestätigung gab es nicht. In Minsk waren auch am Freitag landesweit Straßenproteste gegen Lukaschenko geplant. Zudem demonstrieren immer wieder Unterstützer Lukaschenkos.

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