FRAGILE MOMENTE

FRAGILE MOMENTE

Der schönste Moment des Tages scheint mir zu sein, wenn ich spätabends heimkomme, mich des größten Teils meiner durchgeschwitzten Klamotten entledigt habe, mich auf meine Couch fallen lasse und mir ein letztes Glas Wein gönne.

Das war wieder ein guter Tag. Ich habe etwas gelesen, geschrieben und Musik gehört. Abends dann Freunde getroffen, mit ihnen in einem kleinen Thai-Restaurant gegessen und hinterher angenehme, problemlose Gespräche geführt.

Und dann schalte ich das Fernsehen ein und werde in die reale Welt katapultiert. Ich hätte es wissen müssen. Die gute Laune schwindet zusehends: Die grauenhaften Verbrechen an der Zivilgesellschaft in der Ukraine, Milizen in Afrika, die die Bewohner ganzer Ortschaften berauben, abschlachten oder vergewaltigen, Migranten, die in überfüllten Schlepperkähnen kentern und im Mittelmeer ertrinken, Großbrände in verschiedenen Ländern, schwere Unfälle, Morde...

Ich frage mich, war die Welt früher besser? Als es noch kein Fernsehen gab, kein Internet, als wir nicht wussten, was zur gleichen Zeit auf anderen Kontinenten passierte, als das Elend der Welt noch nicht allabendlich frei Haus geliefert wurde?

Meine gute Feierabend-Laune ist dahin. Ich lebe hier frei und in Freuden und gleichzeitig brennt die Welt. Wie komme ich damit zurecht? Spenden? Das mache ich schon seit vielen Jahren. Das kann es ja wohl nicht gewesen sein. Aber was dann?

Ich lege mich zum Schlafen, aber der Schlaf kommt nicht. Ich wälze mich im Bett hin und her. Die schrecklichen Bilder lassen mich nicht los, verfolgen mich noch in meine Träume.

Es hat keinen Zweck. Ich stehe wieder auf, laufe in meinem Zimmer ziellos herum und versuche mich zu beruhigen.

Wem nützt es, wenn ich tränenreich Hunger und Not, Mord und Krieg beklage? Dadurch wird die Welt nicht besser, und keinem Menschen ist dadurch geholfen.

Was mag in den Köpfen derjenigen vorgehen, die unseren blauen Planeten ständig bedrohen, die ihre Macht für egoistische Ziele missbrauchen? Ob diese Leute gut schlafen können? Warum kann die anständige Mehrheit der Menschheit dieser relativ kleinen Gruppe gewalttätiger Despoten nicht Einhalt gebieten? Ist es Angst, die Angst einiger Länder, durch ihr Eingreifen selbst in die Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden? Oder sind es wirtschaftliche Interessen, weil sie Geschäfte mit kriminellen Diktaturen machen, weil sie glauben, auf die Gewinne aus diesem Handel nicht verzichten zu können?

Im Medizinschränkchen suche ich nach einer Beruhigungstablette, Baldrian stark für die Nacht. Endlich finde ich Schlaf.

Erholt wache ich am Morgen auf. Die Sonne taucht mein Schlafzimmer in gleißendes Licht. Es scheint wieder ein guter Tag zu werden. Nach der Dusche ist der Kopf frei, offen für neue Eindrücke. Was steht heute an? Eine Massage an der Beach, ein Besuch bei Heinz oder shoppen im Central?

Ist es nicht verwunderlich, wie schnell unsere Stimmung sich verändert, wie gleichgültig uns die großen Weltprobleme werden angesichts eines sorgenfreien Morgens?

Ich könnte eine neue Story schreiben oder eine Kolumne für den FARANG. Ich müsste mich auch wieder einmal bei der Familie in der alten Heimat melden, wo es derzeit noch heißer ist als hier in Thailand.

Ein Anruf beendet meine Überlegungen: Willi wird mich gleich abholen zum Brunch im Casa Pascal.

Und danach ist der Tag noch längst nicht vorbei. Ich werde auch am Abend wieder Freunde treffen, in geselliger Runde einen guten Schoppen genießen und mich dann mit meinem Pfleger auf den Heimweg machen. Folgt dann der schönste Moment des Tages?

Ja, heute aber garantiert ohne Fernsehen!

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