SCHWANGAU: Zwei Frauen stürzen in eine Schlucht, eine stirbt später. Ein Mann wird bald darauf als Verdächtiger festgenommen. Zwei Tage später sind alle Spuren beseitigt.
Neuschwanstein ist der Inbegriff eines Märchenschlosses. Es gab Jahre, da besuchten fast 1,5 Millionen Menschen aus aller Welt die berühmte Sehenswürdigkeit in Bayern. Auch am Freitag herrscht das übliche Gedränge. Doch die Postkarten-Idylle trügt. Erst zwei Tage zuvor ereignete sich unweit des Schlosses nach bisherigen Erkenntnissen eine Straftat, womöglich gar ein Mord. Eine 21-Jährige ist tot, ihre Freundin verletzt. Und ein 30-jähriger US-Amerikaner sitzt in Untersuchungshaft. Eine Tat, die für Entsetzen sorgt - und viele Fragen aufwirft, auch wenn vor Ort nichts mehr an das schlimme Geschehen erinnert.
Das ist nach bisherigem Ermittlungsstand passiert: Auf einem Wanderweg östlich der Marienbrücke treffen am Mittwochnachmittag die Frauen zufällig den Verdächtigen, wie der Sprecher der zuständigen Staatsanwaltschaft, Thomas Hörmann, berichtet. Unter einem Vorwand lotst der 30-Jährige die US-Amerikanerinnen demnach einen schwer einsehbaren Trampelpfad in Richtung Tegelberg entlang. Der Weg führt zu einem Aussichtspunkt mit Blick auf das märchenhafte Schloss. Doch statt einer traumhaften Kulisse erwartet die jungen Frauen ein Sturz viele Meter in die Tiefe.
Der Verdächtige soll die 21-Jährige angegriffen haben. Als ihr die 22-Jährige zu Hilfe eilt, soll der Mann diese gewürgt und dann in die Schlucht gestürzt haben. Auch die 21-Jährige soll er den Abhang hinabgestoßen haben. 50 Meter fallen die Frauen in die Pöllatschlucht und bleiben in der Tiefe liegen. Die 21-Jährige wird so schwer verletzt, dass sie später im Krankenhaus stirbt.
Nach Angaben der Polizei wurde ihre Leiche obduziert, Ergebnisse gibt sie aber am Freitag noch nicht bekannt. Ihre Freundin erleidet Prellungen und eine Platzwunde am Kopf. Nach Polizei-Angaben könnte sie noch am Freitag die Klinik verlassen.
War es Mord? Oder gar ein Femizid, bei dem Frauen deshalb getötet werden, weil sie Frauen sind? Da will sich der Sprecher des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West, Holger Stabik, nicht festlegen. Das müssten die weiteren Ermittlungen ergeben. Die Ermittler vermuten, dass ein Sexualdelikt das Motiv für die Attacke gewesen sein könnte. Belastbare Angaben gibt es dazu aber noch nicht.
Der Beschuldigte sitzt jedenfalls wegen Mordes und versuchten Mordes in Untersuchungshaft. Er habe sich vor dem Ermittlungsrichter geäußert, sagt Thomas Hörmann Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Kempten. Zum Inhalt der Aussage machte er keine Angaben.
Auch sonst halten sich die Ermittler bedeckt. Außer, dass es sich um einen US-Touristen handelt, sagen sie nichts über den Verdächtigen. Laut Polizei war er im Juni eingereist. Unklar ist auch, ob er alleine reiste und ob es eine Vorgeschichte gibt. Eine Auslieferung des Mannes in die USA kommt nach Angaben der Staatsanwaltschaft zurzeit nicht in Betracht.
Am Mittwoch kursierte im Internet bereits ein Video, das angeblich die Festnahme des Verdächtigen zeigen soll, auch Medien berichteten über die Attacke. Die Ermittler machten das Geschehen aber erst am Donnerstag publik. Warum diese Verzögerung? «Ich gehe davon aus, dass man noch Ermittlungen abwarten wollte, bevor man die Öffentlichkeit informiert», vermutet Hörmann.
Die Öffentlichkeit soll nun bei der Aufklärung helfen. Die Ermittler riefen alle Menschen auf, die am Tattag in der Nähe waren, Fotos und Videos auf einem speziell eingerichteten Portal hochzuladen. Selbst wenn der Tatverdächtige und die beiden Opfer nur zufällig darauf zu sehen seien, könnte das Erkenntnisse bringen, hieß es.
Rund 15 Hinweise waren bis Freitagmittag auf dem Portal eingegangen. Vieles sei hilfreich, aber die super heiße Spur sei noch nicht dabei, sagte Polizeisprecher Stabik. Zudem könnte die Ausbeute größer sein in Anbetracht der vielen Leute, die an dem Tag rund um das Schloss unterwegs waren. Viele davon seien jedoch Tagestouristen, die längst wieder weitergereist seien, vermutet Stabik. Vor allem viele der ausländischen Besucher hätten womöglich nichts mitbekommen. Die Polizei hat deshalb den Fahndungsaufruf auch ins Englische übersetzt.
Rund um das Schloss herrscht inzwischen wieder Normalbetrieb. Die Polizei ist nicht mehr vor Ort. Die Touristen genießen Schloss und Aussicht. Den Bürgermeister Stefan Rinke von Schwangau im Ostallgäu verwundert das nicht. «Ich bin sicher, dass sich die entsetzliche Einzeltat nicht auf den touristischen Betrieb rund um Schloss Neuschwanstein auswirken wird», sagte er. Die Ermittlungen am Tatort seien bereits abgeschlossen, und für die Besucher seien keine Spuren oder Absperrungsmaßnahmen mehr wahrnehmbar. Angst müsse keiner haben. «Die Sicherheit unserer Gäste ist voll gewährleistet.»