Wahlen mit Nebenwirkungen

Darum geht es am Superwahltag

Foto: epa/Robert Ghement
Foto: epa/Robert Ghement

BERLIN/BRÜSSEL (dpa) - «Die wichtigste Wahl in diesem Jahrzehnt», «Schicksalswahl» oder «Richtungswahl»: Politiker trommeln seit Wochen um Aufmerksamkeit für die Europawahl. Der Ausgang könnte auch für die Bundespolitik Folgen haben - zumal die EU-Wahl nicht die einzige Wahl am Sonntag ist.

Übersteht die große Koalition den Superwahltag? Wie stark werden die Rechtspopulisten im Europaparlament? Und kann erstmals seit mehr als 50 Jahren wieder ein Deutscher Präsident der mächtigen EU-Kommission werden? Der kommende Sonntag ist der wichtigste Wahltag dieses Jahres in Deutschland. Es wird nicht nur über die Zusammensetzung des EU-Parlaments in Straßburg, des Landtags in Bremen und der Gemeindevertretungen in zehn Ländern entschieden. Die Wahlen werden auch Nebenwirkungen bis tief in die Bundespolitik haben. Hier die wichtigsten Fragen, um die es am Superwahltag geht:

Ist bei der Europawahl ein RECHTSRUCK zu erwarten?

Parteien wie die deutsche AfD, die italienische Lega und der französische Rassemblement National (früher Front National) dürfen Umfragen zufolge auf stattliche Zugewinne hoffen. Von einer Mehrheit sind sie allerdings meilenweit entfernt - selbst nach optimistischen Prognosen dürften rechtspopulistische, nationalistische und EU-kritische Abgeordnete nach der Wahl nicht einmal 200 der 751 Sitze des Europaparlaments besetzen. Hinzu kommt, dass die Parteien auch weit davon entfernt sind, geeint zu sein. Die EU-Politik wird deswegen weiter von den etablierten Parteien bestimmt werden.

Kann das bürgerliche Lager auf einen «IBIZA-EFFEKT» hoffen?

Christdemokraten, aber auch Sozialdemokraten, Liberale und Linke hoffen, dass die jüngsten Enthüllungen über FPÖ-Politiker in Österreich europaweit Wähler davon abhalten, Rechtspopulisten zu wählen. Ob der durch ein auf Ibiza heimlich aufgenommenes Video ausgelöste Skandal wirklich über Österreich hinaus Folgen hat, ist allerdings fraglich. Das Video zeigt, wie der spätere Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) mit einer vermeintlichen russischen Investorin über eine Kooperation und möglicherweise illegale Parteispenden spricht.

Ist die Europawahl in Großbritannien eine Art zweites Referendum über den BREXIT?

Zweifellos. Problem ist nur, dass es wahrscheinlich kein klares Ergebnis geben wird. Nach Umfragen könnte die EU-feindliche Brexit-Partei von Nigel Farage zwar klar stärkste Partei werden und etwa 25 der 73 britischen Sitze im EU-Parlament besetzen. Insgesamt gesehen dürften pro-europäische britische Parteien allerdings im Vergleich zur Europawahl 2014 zulegen und möglicherweise sogar vor den EU-skeptischen Kräften landen. 2014 hatten letztere klar vorne gelegen.

Wer wird neuer EU-KOMMISSIONSPRÄSIDENT?

Diese Frage wird bei der Europawahl offiziell gar nicht entschieden, weil die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten das Vorschlagsrecht haben. Aus Sicht des EU-Parlaments muss der Posten des Kommissionschefs allerdings mit einem der Spitzenkandidaten für die Europawahl besetzt werden. Zu diesen gehören neben dem deutschen CSU-Politiker und Favoriten Manfred Weber auch der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans und die dänische Liberale Margrethe Vestager. Wenn Weber es schafft, nach der Wahl eine Mehrheit im Parlament zu organisieren, könnte er erster Deutscher seit mehr als 50 Jahren werden.

Fällt die letzte ROTE HOCHBURG BREMEN?

Mit Bremen wählt das kleinste Bundesland sein Parlament. Die Wirkung dürfte aber über die Landesgrenzen hinaus ausgesprochen groß sein. Den Umfragen zufolge könnte die SPD nach 73 Jahren als stärkste Kraft ihre bisher unangefochtene Führungsposition verlieren - bei der letzten Wahl vor vier Jahren hatten die Sozialdemokraten noch mehr als zehn Prozentpunkte Vorsprung vor der CDU. Für die schwer angeschlagene Bundespartei wäre das eine Katastrophe, deren Folgen noch nicht absehbar sind.

Fällt dann auch ANDREA NAHLES?

Neben dem Machtverlust in Bremen droht der SPD auch bei der Europawahl ein Rekordergebnis im negativen Sinne. Erstmals könnte sie bei einer bundesweiten Wahl unter die 20-Prozent-Marke fallen, wenn es ganz schlecht läuft sogar unter 15 Prozent. Was wird dann aus Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles? Fraktionsvize Achim Post und Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz wird nachgesagt, sich bereits für die Ablösung Nahles' an der Fraktionsspitze im Bundestag warmzulaufen. Und den Gegner der großen Koalition um Juso-Chef Kevin Kühnert würde eine Wahlniederlage neue Argumente liefern.

Was wird aus ANGELA MERKEL?

Seit Wochen wird darüber diskutiert, wie haltbar das Dualsystem der CDU mit Angela Merkel an der Regierungsspitze und Annegret Kramp-Karrenbauer an der Parteispitze noch ist. Dass AKK bei deutlichen CDU-Verlusten versucht, Merkel aus dem Kanzleramt zu verdrängen, gilt aber als unwahrscheinlich. Die CDU-Chefin hatte kürzlich ausgeschlossen, dass sie «auf einen mutwilligen Wechsel hinarbeite». Sollte die Koalition von SPD-Seite ins Wanken gebracht werden und es vorgezogene Neuwahl geben, wird Merkel nicht erneut antreten. Einen Wechsel auf einen wichtigen EU-Posten nach ihrer Amtszeit als Kanzlerin hat sie ausgeschlossen.

Werden die GRÃœNEN erstmals die Nummer zwei bei einer bundesweiten Wahl?

Seit der ersten Bundestagswahl 1949 war vor allen bundesweiten Wahlen eines klar: Die ersten beiden Plätze belegen CDU/CSU und SPD. Bei dieser Europawahl ist das erstmals anders. Seit Mitte März liegen die Grünen in den Umfragen entweder gleichauf oder sogar vor der SPD, haben also gute Chancen die Nummer zwei zu werden. In Bremen könnten sie als drittstärkste Kraft zudem eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung spielen.

Wie stark wird die AFD bei den Kommunalwahlen im Osten?

In zehn Bundesländern finden parallel zur Europawahl die Kommunalwahlen statt. Besonders interessant sind Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Dort gelten die Abstimmungen in den Kommunen auch als Stimmungstests für die Landtagswahlen am 1. September (Brandenburg und Sachsen) und 27. Oktober (Thüringen). Vor allem in Brandenburg und Sachsen hat die AfD den jüngsten Umfragen zufolge Chancen, stärkste Partei zu werden.

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