Stadtteilchef chronisiert Beben

Ein Bagger arbeitet auf dem Gelände eines abgerissenen Gebäudes in Kahramanmaras. Foto: epa/Erdem Sahin
Ein Bagger arbeitet auf dem Gelände eines abgerissenen Gebäudes in Kahramanmaras. Foto: epa/Erdem Sahin

KAHRAMANMARAS: Adnan Narli ist Vorsteher eines Stadtteils in der Türkei, der nun in Trümmern liegt. Er selbst hat seine Tochter bei dem Erdbeben verloren. Der Stadt den Rücken zu kehren, kam für ihn nie infrage.

Adnan Narli ist ein pragmatischer Mann. Der Stadtteilvorsteher im türkischen Kahramanmaras redet schnell und taktet seine Termine genau. Vor genau einem Jahr zerriss das Erdbeben seinen Stadtteil in Millionen Trümmerstücke. Adnan Narli möchte sie wieder zusammenfügen und seinen Stadtteil wieder aufbauen.

Am 6. Februar 2023 wurde auch er unter dem Beton seines Wohnhauses verschüttet. Nach Stunden konnte er gerettet werden. Wenige Meter von ihm entfernt lag auch seine Tochter verschüttet. Er unterhielt sich stundenlang mit der 16-Jährigen und sprach ihr und sich selbst Mut zu. Sie starb, eingeklemmt in den Betonteilen.

Adnan grub weiter. 40 Tage lang suchte er die Trümmer ab und barg unzählige Leichen. 3000 Menschen starben allein in seinem Stadtteil Ismetpasa. Seit dem Erdbeben hat er keinen Tag außerhalb der Stadt verbracht. Er habe für die Menschen da sein wollen.

Das alte Büro gibt es nicht mehr. Der Stadtteilvorsteher arbeitet nun aus einem Container. Gegenüber entstehen neue Wohngebäude auf den Grundstücken, auf denen vor einem Jahr Tausende starben. Adnans eigentlicher Beruf ist Friseur. Und so ist in dem Container, den Adnan inzwischen seinen «Laden» nennt, neben einem schweren Schreibtisch auch ein Frisiertisch aufgebaut.

In dem Schreibtisch versteckt sich ein kleines Archiv. Hier sammelt er seine Funde aus den Trümmern: Klassenfotos, Hochzeitsbilder, Tagebücher. «Das waren meine Freunde, die sind hier gegenüber umgekommen», sagt der 45-Jährige und hält ein Stammbuch mit Passbildern von zwei Eheleuten in den Händen. «Ich gebe den Leuten, die überlebt haben, ihre Fotos zurück», sagt er. Viele der Dokumente dürften niemals abgeholt werden.

Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte kurz nach den Beben versprochen, innerhalb eines Jahres die zerstörten Gebäude wieder aufzubauen. Dieses Versprechen wurde nicht gehalten. Für viele dürfte es mindestens noch Monate dauern, bis sie ihre Container verlassen können.

Dass die Bausubstanz der Häuser in seinem Stadtteil schlecht war, habe er gewusst, sagt Adnan Narli. Die offiziellen Todeszahlen zweifelt er wie viele andere an. Insgesamt sollen es der Regierung zufolge 53.000 Menschen sein, die in den südöstlichen Provinzen der Türkei ums Leben kamen.

Ein Kunde in Adnans Container wirft ein, dass die Regierung sich kürzlich verraten habe und spielt an auf eine Äußerung des AKP-Politikers Murat Kurum. Bei einer Veranstaltung sprach er von 130.000 Toten. Später ordnete er ein, damit die Erdbebentoten der vergangenen 100 Jahre gemeint zu haben. Viele in der Türkei werten es so, dass Kurum versehentlich die Wahrheit gesagt habe. Auch Adnan schließt das nicht aus. «Ich denke, in Kahramanmaras waren es allein mindestens 30.000 Tote.»

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