Sensible Beobachterin des Alltags

Regisseurin Agnès Varda ist tot

Foto: epa/Guillaume Horcajuelo
Foto: epa/Guillaume Horcajuelo

PARIS (dpa) - Agnès Varda lief Sturm gegen das herkömmliche Erzählkino und interessierte sich für die kleinen Dinge. Nun ist die vielfach ausgezeichnete Regisseurin und Künstlerin im Alter von 90 Jahren gestorben.

Einfache, am Rande der Gesellschaft lebende Menschen und banale Dinge des Alltags: Die Filme von Agnès Varda zeichnen sich durch Neugierde am Alltäglichen und durch Respekt vor den Menschen aus. Erfolg und Karriere suchte sie nicht. «Ich will die Menschen sensibilisieren, sie ansprechen, sie berühren. Wenn ich das schaffe, bin ich glücklich», sagte sie einmal. Nun ist die Regie-Ikone und Pionierin des Autorenkinos im Alter von 90 Jahren am frühen Freitagmorgen in Paris gestorben, wie ihre langjährige Produzentin Cécilia Rose der Deutschen Presse-Agentur bestätigte.

«Ich habe noch nie Reiche und Wohlhabende gefilmt», sagte Varda in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur zu ihrem 90. Geburtstag im vergangenen Jahr. So erzählt sie in «Vogelfrei» (Originaltitel: «Sans toit ni loi») die Geschichte einer Frau, die als Landstreicherin durch Südfrankreich zieht und den Kältetod stirbt. Dafür wurde Varda 1985 als eine von wenigen Frauen bei den Filmfestspielen in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.

Bewegende Frauenporträts zeigt sie in «Die Witwen von Noirmoutier» («Quelques veuves de Noirmoutier»). Ein Film, der gleichzeitig ihre eigene Witwenschaft widerspiegelt. Varda hatte 1990 ihren Mann, den Regisseur Jacques Demy, verloren, mit dem sie auf der französischen Atlantikinsel Noirmoutier regelmäßig ihren Urlaub verbracht hatte.

«Die Sammler und die Sammlerin» (Originaltitel: «Les glaneurs et la glaneuse») handelt von Menschen, die noch heute aus Not nach der Ernte oder dem Wochenmarkt Kartoffeln und Äpfel auflesen. Darin stapft Varda durch Ackerfelder und entdeckt eine Kartoffel in Herzform. Und weil eine Kartoffel so schön sein kann, hat sie später «Patatutopia» geschaffen, eine der Kartoffel gewidmete Installation.

Varda hat einfühlsame und poetische Filme gedreht, die zwischen Fiktion und Dokumentation schwanken, sie hat die halbe Welt fotografiert und wurde in den 70er-Jahren auch als Installationskünstlerin bekannt. Zu ihren bekanntesten Werken gehören ihre «Cabanes»: Hütten, die teilweise aus Kopien ihrer alten 35-mm-Filme bestehen. Das Konzept dahinter: «So verwerte ich meine Erinnerungen wieder, eine Art Recycling meines Lebens.»

Goldener Löwe, Ehren-César, Ehrenleopard, Palme d'honneur: Agnès Varda ist in ihrer über 60-jährigen Karriere mit Ehrungen und Auszeichnungen überhäuft worden. Zu Kopf gestiegen sind ihr die Trophäen jedoch nicht, auch nicht der Ehren-Oscar im Jahr 2017.

Sie sei eine kleine Königin am Rande des Kinos, sagte sie in dem dpa-Gespräch. Die Ehren-Oscars bekämen Leute, die keine Hollywood-Stars und Blockbuster-Filmemacher seien. Dass man sie jedoch wahrgenommen habe, habe sie sehr berührt.

Mit ihrer Doku «Augenblicke: Gesichter einer Reise», die sie mit dem bekannten Streetart-Künstler JR gedreht hat, wurde sie 2017 in Cannes gefeiert. Für den Film reiste sie zusammen mit JR in einem Fotomobil durch das ländliche Frankreich. Dabei begegneten sie Fabrikarbeitern und Bauern, deren Porträts sie auf Fassaden und Schiffscontainern anbrachten. Der Film wurde 2018 auch für einen Oscar als bester Dokumentarfilm nominiert.

Varda wurde als Tochter eines Griechen und einer Französin in Brüssel geboren, flüchtete jedoch während des Zweiten Weltkriegs mit ihren Eltern nach Sète. In Paris besuchte sie die Pariser Hochschule für Fotografie und arbeitete beim ersten Theaterfestival in Avignon 1947 als Bühnenfotografin.

Als Fotoreporterin reiste sie durch China, Afrika, Amerika und die Sowjetunion. Erst Anfang der 50er Jahre näherte sie sich dem Film. Mit dem halbdokumentarischen Kurzfilm «La Pointe-Courte» (etwa: Die kurze Spitze) über das Leben eines Paares in ihrem Fischerdorf feierte sie 1955 ihr Debüt als Filmemacherin und Pionierin des Autorenkinos. In Frankreich wurde sie auch die «Großmutter der Nouvelle Vague» genannt, jener Bewegung, die in den 60er Jahren gegen das herkömmliche Erzählkino Sturm lief.

«Ich sage «Merci»», sagte Produzentin Cécilia Rose. «Danke für alles, was sie gemacht hat, für ihre Arbeit, ihre Liebe und ihre Zuneigung für andere Menschen.»

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