Klettern auf den Gipfel des Mount Everest

Ohne Beine oder blind 

Der Sonnenuntergang färbt den Gipfel des Mount Everest. Foto: Zhang Rufeng/Xinhua/dpa
Der Sonnenuntergang färbt den Gipfel des Mount Everest. Foto: Zhang Rufeng/Xinhua/dpa

KATHMANDU: Einmal auf dem Dach der Welt stehen: Das ist für viele Menschen ein Traum - und kostet einige das Leben. Ein Mann ohne Beine und ein Blinder erzählen, warum sie das Abenteuer trotzdem wagten.

Mark Inglis läuft auf Prothesen - und hat trotzdem etwas geschafft, das viele Menschen an ihre körperliche Grenze bringt: Der Neuseeländer hat vor einigen Jahren den höchsten Punkt der Erde erreicht, den 8849 Meter hohen Gipfel des Mount Everest. Und er erzählt, dass er beim Aufstieg kaum mehr Hilfe gebracht habe als andere Bergsteiger. «Ich habe keine Behinderung», betont der 64-Jährige im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. «Ich habe einfach eine zusätzliche Komplikation bei meinem Training und muss mich viel mehr auf den Berg konzentrieren und mich mehr anstrengen.»

Inglis liebt das Bergsteigen seit seiner Jugend. Damals - zu einer Zeit, als er noch Beine hatte - habe er damit angefangen, erzählt er in einem Online-Video. Die große Leidenschaft blieb auch dann noch, als er sich am Mount Cook in der Heimat schwere Erfrierungen zuzog und seine Beine unterhalb der Knie amputiert werden mussten. Damals war er zwei Wochen lang bei schlechtem Wetter in einer Eishöhle eingeschlossen. «Meine Familie und Bergsteigerfreunde wussten immer, dass ich den Everest besteigen würde», sagt er. «Die Frage war nur wann.» Und: «Der Berg ist so etwas wie die Weltmeisterschaft für einen Bergsteiger.»

Diese riskante WM bestreiten nicht viele Menschen mit einer Behinderung. Nach Angaben des Expeditionsarchivs «Himalayan Database» schafften es von 26 von ihnen auf die Spitze - 24 Männer und zwei Frauen. Einige nutzten dabei Helikopter, wie es weiter heißt.

Inglis bestieg den Everest im Mai 2006 im Alter von 46 Jahren zusammen mit anderen Bergsteigern ohne Behinderung. «Nur beim Abstieg habe ich widerwillig Hilfe angenommen, um sicherzustellen, dass alle schnell vom Berg herunterkommen», sagt er. Einer seiner Kollegen starb auf dem Weg nach unten. Inglis Frau Anne erklärte damals der Zeitung «NZ Herald»: «Er geht mit einem Schlitten zurück und beim letzten Teil des Wegs wird er auf einem Yak reiten, weil er seine Beinstümpfe verletzt hat.» Später kam Inglis ins Guinness-Buch der Rekorde: als erster doppelt-amputierter Mensch, der den höchsten Berg der Welt bestiegen hat.

Eine Besteigung des Mount Everest ist teuer. Ein Ausländer zahlt dafür mindestens 40.000 Euro - oft auch das Doppelte, wie US-Bergsteiger und Blogger Alan Arnette vorrechnet. Darin enthalten ist die Gebühr für die behördliche Genehmigung, Ausrüstung, Sauerstoffflaschen, Inlandsflüge, Unterkunft, Essen und ein lokales Helferteam, das die Route entlangführt, Gepäck trägt und kocht. Inglis sagt, ein Sponsor habe die meisten Kosten übernommen. Und er selbst habe Spenden in Höhe von 70.000 US-Dollar gesammelt, die für ein Rehabilitationszentrum in Kambodscha eingesetzt worden seien.

Der Mount Everest liegt auf der Grenze zwischen der autonomen Region Tibet in China und Nepal - in dem Land liegen viele der höchsten Berge der Erde. Im Jahr 2017 verbot das dortige Tourismusministerium Menschen mit einer Behinderung Gipfel mit einer Höhe von mehr als 6500 Metern zu erklimmen. Begründung: Sorge um die Sicherheit und das Wohlergehen der Betroffenen. Doch ein Journalist und ein sehbehinderter Bergsteiger gingen gerichtlich dagegen vor, die Regel beschneide die in der Verfassung verankerten Menschenrechte. Das Höchste Gericht des Landes gab ihnen recht - und gab das Bergsteigen 2018 wieder für alle frei.

Der Chinese Zhang Hong wollte mit der Besteigung des Mount Everest im Mai 2021 vor allem sich selbst etwas beweisen - und seiner Frau. «Nachdem ich meine Sehkraft mit 21 Jahren verloren habe, wollte ich immer etwas tun, um mein Leben aufregender zu machen», sagt er im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Zhang kommt aus der chinesischen Metropole Chongqing, lebte aber schon lange in Lhasa, der Hauptstadt von Tibet, wo er als Masseur arbeitete. Als er anfing, wegen Grünem Star zu erblinden, habe seine Frau ihn geheiratet - entgegen dem Rat von anderen Menschen. «Ich wollte immer etwas tun, um mich zu beweisen und ihr zu zeigen, dass sie mich heiratete, ohne dabei etwas zu verlieren», sagt er.

Für seine Idee, mit 46 Jahren das Dach der Welt zu besteigen, hätten ihn viele als verrückt bezeichnet, erzählt Zhang. Zumal der heute 49-Jährige nach eigenen Worten anfangs keine Erfahrung im Bergsteigen hatte. Als er aber 2015 vom US-Amerikaner Erik Weihenmayer erfuhr, der 2001 als erster Blinder auf den Everest gestiegen war, wollte er es ihm gleichtun. Mit einem Bergführer erstieg Zhang noch im selben Jahr einen 5800 Meter hohen Berg. «Obwohl ich die Umgebung nicht sehen konnte, wehte mir der Wind ins Gesicht und ich roch den Geruch von Schnee, aber am wichtigsten: Ich hörte das Geräusch vieler Gebetsfahnen, die im Wind flatterten», berichtet er.

Für den körperlich anspruchsvollen und teuren Gang zum Everest reichte das nicht. «Ich hatte keine Kondition, kein Geld, kein Team und keine Trainingsgrundlage», erzählt Zhang. Um in Form zu kommen, stieg er täglich mehrere Stunden mit 20 bis 30 Kilogramm Gepäck und schweren Bergstiefeln an den Füßen sein Treppenhaus bis in den zwölften Stock hinauf. Das Geld für seine mehrmonatige Reise lieh er sich, ein Teil kam per Crowdfunding zusammen.

Bei seinem Abenteuer begleitete ihn ein Filmteam. Die Dokumentation «Invisible Summit» («Unsichtbarer Gipfel») kam vergangenes Jahr ins Kino. Der Film zeigt Strapazen beim Training im Basiscamp, Tränen, Erschöpfung und wie schwierig es für seinen Bergführer Qiang Zi war, Zhang heil über Schluchten und gewaltige Eismassen zu bringen. Knapp unterhalb des Gipfels hätten Qiang und der Kameramann nicht mehr gekonnt, erzählt Zhang. Er musste nach eigenen Worten anderen Bergführern vertrauen, die weder Englisch noch Chinesisch sprachen.

Für Inglis und Zhang ist es wichtig zu zeigen, dass man trotz Behinderung viel erreichen kann - und es auf die richtige Einstellung ankommt. Zhang sagt, die Everest-Besteigung habe ihn selbstbewusster gemacht. Früher habe er sich Gedanken über das gemacht, was andere von ihm hielten - heute nicht mehr.

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