DEN HAAG: Premier Mark Rutte lenkte die Geschicke der Niederlande auch dann, wenn es schwierig wurde, souverän. Mit seinem Rückzug steht das Land nicht nur bloß vor einer Neuwahl. Welchen Kurs schlägt es ein?
Es ist ein Paukenschlag in Den Haag: Premier Mark Rutte, der die Geschicke der Niederlande seit fast 13 Jahren mit unterschiedlichen Regierungen souverän gedeichselt hat, hat nach dem Bruch der Regierung seinen Rückzug aus der Politik angekündigt. Bei einer Neuwahl tritt er nicht mehr als Kandidat seiner rechtsliberalen Partei VVD für eine fünfte Amtszeit an, erklärte er am Montag. Die Frage ist nun, welchen Kurs die Niederländer an den Urnen wählen. Muss sich in dem politisch zersplitterten Land erneut ein Puzzle von Parteien zum Regieren zusammenraufen, oder rücken die traditionell als liberal und tolerant geltenden Niederlande nach rechts?
Daran, dass der für die niederländische Kultur prägende Kompromiss in Den Haag zuletzt immer schwieriger zu finden war, hatten die Menschen sich gewöhnt. Die Erwartung war aber, dass der schlaksige, meist lachende Premier trotz des Bruchs der Vier-Parteien-Regierung im Streit um die Migrationspolitik vergangenen Freitag eine Option in der Hinterhand hat, wie es nun weitergeht. Auch von einem Machtspiel war die Rede, bei dem die Asylpolitik nur Vorwand war, sich mit dem Thema zu profilieren und gestärkt aus einer Neuwahl hervorzugehen. Ein Misstrauensvotum, wie es Rutte am Montag nach Ankündigung der Opposition bevorstand, hatte ihn in vergleichbaren Lagen bislang nicht eingeschüchtert.
Nun stehen in den Niederlanden voraussichtlich im Herbst Neuwahlen an, das Datum wird zeitnah von König Willem-Alexander verkündet. Rutte bleibt - wie auch die Regierung - bis dahin im Amt. Erst wenn das neue Kabinett steht, ziehe er sich zurück, erklärte der 56-Jährige.
Noch in dieser Woche will die rechtsliberale VVD bestimmen, wer an Ruttes Stelle in den Wahlkampf zieht. Und auch die anderen Parteien - 17 saßen zuletzt im Parlament - haben bereits mit der Suche nach Kandidaten und Strategien begonnen. Sozialdemokraten und Grüne etwa kündigten schon ein gemeinsames Antreten an. Dabei war die vierte Regierung unter Ruttes Leitung erst seit Anfang 2022 im Amt.
Gut denkbar ist, dass die neue Regierung am Ende ähnlich aussieht, wie die alte: Eine unter Führung der VVD zusammengewürfelte Mitte-Rechts-Regierung, die noch stärker als die deutsche Ampel-Koalition um gemeinsame Positionen wird ringen müssen. Umfragen geben aber auch her, dass die neue rechtspopulistische Bauerbürgerbewegung BBB, die jüngst erst bei den Provinzwahlen stärkste Kraft wurde, einen großen Sieg einfährt. Denkbar wäre, dass die BBB und die VVD dann zusammen eine Regierung bilden.
Auch der Rechtspopulist Geert Wilders und seine bislang isolierte «Partij voor de Vrijheid» drängen bereits nach Macht. Wilders erklärte am Montag im Parlament: «Wir wollen Verantwortung übernehmen, der Ausschluss unserer Partei muss enden.»
Ein solcher Rechtsruck in einem EU-Gründerstaat wäre für Brüssel keine willkommene Perspektive. Dabei hatte auch Rutte sich oft EU-kritisch gezeigt. Für ihn war das Bündnis eher ein notwendiges Übel, er erkannte aber die Vorteile für das Handelsland Niederlande. Wenn es ums Geld ging, trat Rutte in Brüssel aber oft auf die Bremse und machte sich etwa bei den Beratungen etwa um den Corona-Wiederaufbaufonds als Wortführer der «Sparsamen Vier» einen Namen.
Für Deutschland wären die Folgen einer Machtverschiebung im Nachbarland wahrscheinlich in der Praxis nicht so gravierend. Beide Länder kooperieren längst nicht mehr nur im Handel, sondern in vielen Lebensbereichen so eng miteinander, dass dabei keine Rolle mehr spielt, wer in Berlin oder Den Haag gerade am Ruder sitzt.
Erste Sorge der Niederländer ist nun zunächst nicht, wer die Neuwahl für sich entscheidet - sondern dass es bis zum erwartungsgemäß langwierigen Aushandeln einer neuen Koalition keinen kompletten Stillstand im Land gibt. Neben der Migrationspolitik sorgen sich die Menschen auch um die Wohnungsnot, die Energiewende sowie die Klimapolitik. Einer der großen Konflikte ist die Zukunft der Landwirtschaft angesichts angekündigter Umweltauflagen.