Nationales Recht oder EU-Recht - was geht vor?

Die Pressekonferenz des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki. Foto: epa/Piotr Nowak
Die Pressekonferenz des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki. Foto: epa/Piotr Nowak

WARSCHAU: Brüssel und Warschau streiten seit Jahren über Polens Justizreform. Jetzt will das polnische Verfassungsgericht entscheiden, ob nationales Recht Vorrang vor EU-Recht hat. Das Urteil könnte neuen Stoff für Konflikte bieten.

Kann europäisches Recht über dem polnischen Verfassungsrecht stehen? Mit dieser Frage wird sich am Dienstag das Verfassungsgericht in Warschau befassen. Konkret geht es darum, ob Bestimmungen aus den EU-Verträgen, mit denen die EU-Kommission ihr Mitspracherecht bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit begründet, mit der polnischen Verfassung vereinbar sind.

Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte das polnische Verfassungsgericht gebeten, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 2. März 2021 zu überprüfen. In dem Urteil hatten die obersten EU-Richter festgestellt, dass EU-Recht Mitgliedstaaten zwingen kann, einzelne Vorschriften im nationalen Recht außer acht zu lassen, selbst wenn es sich um Verfassungsrecht handelt. Laut EuGH könnte das Verfahren zur Besetzung des Obersten Gerichts in Polen gegen EU-Recht verstoßen. Dies würde bedeuten, dass der EuGH Polen zwingen könnte, Teile der umstrittenen Justizreform der nationalkonservativen PiS-Regierung aufzuheben.

Die EU-Kommission hat wegen der Reformen bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen die Regierung in Warschau eröffnet und Klagen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht. Unter anderem hat die Brüsseler Behörde auch Zweifel an der Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts. Vorsitzende ist Julia Przylebska, enge Vertraute von PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski.

Allerdings ist das polnische Verfassungsgericht innerhalb der EU nicht allein mit seiner Auffassung. Auch aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts ist es strittig, ob Urteile des EuGH grundsätzlich Vorrang vor Urteilen nationaler Gerichte haben.

Die Karlsruher Richter hatten im Mai 2020 milliardenschwere Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank beanstandet - und sich damit zum ersten Mal gegen ein EuGH-Urteil gestellt. Die Verfassungsrichter argumentierten, die Notenbank habe mit dem 2015 gestarteten Programm ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt. Bundesregierung und Bundestag sollten darauf hinwirken, dass Europas Währungshüter nachträglich prüfen, ob die Käufe verhältnismäßig sind. Dies ist inzwischen geschehen, wie das Gericht in einem Beschluss Ende April feststellte. Im Streit um das Urteil gab die EU-Kommission im Juni die Einleitung eines Vertragsvletzungsverfahrens gegen Deutschland bekannt.

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