Michael Köhlmeiers Bestseller «Das Philosophenschiff»

Der Österreichische Autor Michael Kohlmeier posiert nach einer Lesung auf der Leipziger Buchmesse, in Leipzig. Archivfoto: epa/JAN WOITAS
Der Österreichische Autor Michael Kohlmeier posiert nach einer Lesung auf der Leipziger Buchmesse, in Leipzig. Archivfoto: epa/JAN WOITAS

BERLIN: Der Bestseller «Das Philosophenschiff» von Michael Köhlmeier erinnert an perfide Deportationen der Bolschewisten - und hat einen erschreckenden Bezug zur Aktualität.

Diktaturen haben ganz unterschiedliche Mittel, sich unliebsamer Kritiker und Widersacher zu entledigen. Wahrscheinlich fanden sich die siegreichen Bolschewisten noch ziemlich human, als sie sich eine ganz spezielle Form der Ausbürgerung ausdachten. Unbequeme Intellektuelle wurden ins Ausland abgeschoben, und zwar per Schiff. Im Herbst 1922 verließen zwei solcher sogenannten Philosophenschiffe das damalige Petrograd (heute Sankt Petersburg) Richtung Stettin. An Bord waren Professoren, Wissenschaftler, Ärzte, Schriftsteller und andere Intellektuelle, die die sowjetischen Machthaber nach den Worten Trotzkis unmöglich länger ertragen konnten, die allerdings auch keinen Anlass gegeben hatten, sie einfach zu erschießen. Lenin sprach schlicht und ergreifend von «Säuberung».

In seinem neuen Roman «Das Philosophenschiff» erinnert der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier an diese Deportationen und behandelt damit ein Thema von beklemmender Aktualität. Das «Philosophenschiff» seines Romans ist allerdings eine Fiktion, wenn auch eng angelehnt an die tatsächlichen Gegebenheiten. Der Autor selbst wird hier zur Romanfigur. Die hundertjährige Anouk Perleman-Jacob erteilt ihm nämlich den Auftrag, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Die renommierte Architektin hat ihn ausgesucht, weil er «einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen etwas windigen» habe: «Ich weiß, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr.» Gerade dieser Ruf des Schriftstellers kommt ihr gelegen, denn wenn ihre Geschichte «keiner glaubt, umso besser».

Recht unwahrscheinlich klingt denn auch das, was sie erzählt. Als 14-Jährige wurde Anouk Perleman-Jacob mit ihren Eltern eines Tages auf einen Luxusdampfer verfrachtet, auf dem sich nur zwölf Passagiere verliefen. Was diese Menschen genau verbrochen haben sollten, blieb schleierhaft, es gab nie eine Anklage, keinen Prozess. Auch ihre Eltern - der Vater Universitätsprofessor, die Mutter Ornithologin - waren sich keiner Schuld bewusst. Vielleicht machte sie ihre Freundschaft mit dem Dichter Nikolai Gumiljow verdächtig. Dieser, eine historische Gestalt, wurde als angeblicher konterrevolutionärer Verschwörer von den Bolschewisten erschossen.

Auch die anderen Passagiere auf dem Geisterschiff erscheinen nicht gerade als hartleibige Konterrevolutionäre oder Verschwörer. Da ist ein altes Ehepaar, er Mathematiker, der sich sein ganzes Leben lang nur für Zahlen interessierte, sie in ihrer Jugend eine Dichterin, die sich dann der Malerei zuwandte und fortan nur noch Bäume malte. Dass solche Menschen ohne irgendeine Anschuldigung deportiert werden, symbolisiert nur die ganze Willkür des Regimes.

Eines Tages entdeckt Anouk auf dem Schiff einen ganz besonderen Passagier, er sitzt im Rollstuhl, «ein sehr altes, sehr krankes Wesen». Wie sich herausstellt, ist es der halbseitig gelähmte Lenin, der unter seiner Schlafmütze wie eine Karikatur aussieht. Was macht der Anführer der Bolschewiken und diktatorische Regierungschef auf einem Deportiertenschiff? Das lässt Köhlmeier bewusst im Unbestimmten. Lenin ist da, weil er den Terror symbolisiert. «Es gibt nur eine Macht», verkündet der Politiker. «Die Macht zu töten. Von ihr leitet sich alle andere Macht ab. Die Macht, über ein Leben zu entscheiden. Ob ja oder nein. Über tausend Leben zu entscheiden. Ja oder nein.» Wie wenig ein Leben wert sei, wisse man erst, wenn man tausend ausgelöscht habe.

«Das Philosophenschiff» ist ein kunstvoll komponiertes Buch, das raffiniert Gegenwart mit Vergangenheit, Fiktion und Tatsachen verbindet. Es geht um Freiheit und um Terror und den ewigen Wunsch der Diktatoren dieser Welt, geistige Unabhängigkeit zu unterdrücken und zu eliminieren. Deprimierend ist die Erkenntnis, dass das von Köhlmeier gewählte historische Beispiel von trauriger Aktualität ist. Auch heute müssen russische Intellektuelle, wenn sie Tod und Lagerhaft vermeiden wollen, wieder ihre Heimat verlassen und das Wort Deportation ist auch in deutschen Debatten erschreckend präsent.

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