Merkels letzte Chance, eine große Europäerin zu werden

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) tippt nach ihrer Regierungserklärung im Bundestag in ihr Smartphone. Foto: Michael Kappeler/dpa
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) tippt nach ihrer Regierungserklärung im Bundestag in ihr Smartphone. Foto: Michael Kappeler/dpa

BERLIN/BRÜSSEL: Selten waren die Erwartungen an eine EU-Ratspräsidentschaft so groß wie diesmal: Mitten in einer historischen Krise übernimmt Deutschland den Vorsitz der 27 Staaten. Es geht um nicht weniger als das Schicksal Europas - und das politische Vermächtnis Angela Merkels.

Angela Merkel hat politisch gesehen in ihren knapp 15 Jahren als Kanzlerin eine Achterbahnfahrt durch Europa hingelegt. Anfangs fuhr sie mit ihrer pragmatischen Art schnell Verhandlungserfolge ein, wurde als «Angela Europa» gefeiert. In der Eurokrise ab 2010 stürzte ihr Ansehen ab: Die verschuldeten Länder im Süden warfen ihr Hartherzigkeit vor, auf einmal galt sie als Totengräberin Europas, wurde von Demonstranten in Athen sogar mit Adolf Hitler verglichen. Auch ihre Flüchtlingspolitik 2015 entzweite Europa.

Kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit hat sie nun die Chance, das Blatt noch einmal zu wenden und sich auf den letzten Metern doch noch als große Europäerin in die Geschichtsbücher einzutragen. Am 1. Juli beginnt mitten in der historischen Corona-Krise die deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union. Der von der Pandemie getroffene Kontinent hofft auf Heilung, vielleicht sogar Rettung. Alle schauen auf Deutschland - und vor allem auf Angela Merkel. «Ich kann mich nicht erinnern, dass eine Ratspräsidentschaft einmal so mit Erwartungen und Themen konfrontiert war», sagt der SPD-Europapolitiker Udo Bullmann.

Ein riesiges Konjunkturprogramm soll die europäische Wirtschaft aus der Rezession holen. Die Pandemie gilt es zu überwinden, den Brexit zu bewältigen, ein neues Klimaziel zu setzen, den Dauerstreit über Migration zu lösen, Europa in der Welt zu stärken. Gelingt Merkel das alles in nur sechs Monaten, wäre sie vielleicht für einen historischen Moment wirklich noch die «Königin Europas». Auch das Etikett wurde ihr schon angeheftet.

Fragen nach ihrem europapolitischen Vermächtnis wischt die CDU-Politikerin ein Jahr vor dem angekündigten Ende ihrer Kanzlerschaft vom Tisch. Aber es ist klar, dass sich im nächsten halben Jahr viel entscheiden wird - für Europa und für Merkel. Lange wurde ihr ein Mangel an Visionen nachgesagt, dazu Trägheit, Zögerlichkeit, Hartleibigkeit. Jetzt soll ausgerechnet sie die EU beieinander halten. Und sogar der Merkel-Kritiker Sven Giegold von den Grünen sagt: «Ich traue ihr das grundsätzlich zu.»

Das hängt damit zusammen, was Giegold die 180-Grad-Wende nennt: Am 18. Mai erklärte sich Merkel nach einer Videokonferenz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron erstmals bereit, im großen Stil europäische Schulden zu akzeptieren - 500 Milliarden Euro - und das kreditfinanzierte Geld als Zuschuss an Corona-Krisenstaaten zu geben. Eine Revolution für die deutsche Kanzlerin, die in der Eurokrise strikt gegen eine Schulden- und Transferunion Kurs gehalten hatte. Damit war der Weg frei für EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, die mit deutsch-französischer Rückendeckung dann ein ganz ähnliches Wiederaufbauprogramm vorschlug, sogar im Umfang von 750 Milliarden Euro.

Grund für Merkels Kurswechsel war jetzt wohl die Erkenntnis, dass die EU an dieser Krise wirklich kaputt gehen könnte. «Wir werden entschlossen der Gefahr entgegenarbeiten, dass sich dauerhaft ein tiefer Spalt durch Europa zieht», sagte Merkel vorige Woche in ihrer Regierungserklärung zur Ratspräsidentschaft. Die wirtschaftlichen Perspektiven dürften nicht auseinanderdriften und der Binnenmarkt nicht geschwächt werden.

Gemeint ist: Deutschland war mit einem Bruttoinlandsprodukt von rund 3,5 Billionen Euro schon vor der Krise die bei weitem größte Wirtschaftsmacht in der EU und kann nun dank solider Staatsfinanzen Milliarden und Abermilliarden in die eigene Wirtschaft pumpen. Den von der Pandemie besonders hart getroffenen Staaten wie Italien und Spanien könnte dagegen schnell wirtschaftlich die Luft ausgehen.

Damit wären nicht nur deutsche Absatzmärkte verloren, sondern auch politische Stabilität. Niemand solle naiv sein, sagte Merkel: «Die antidemokratischen Kräfte, die radikalen, autoritären Bewegungen warten ja nur auf ökonomische Krisen, um sie dann politisch zu missbrauchen.»

In Italien, einem Gründungsstaat der europäischen Gemeinschaften, sagten auf dem Höhepunkt der Pandemie in einer Umfrage 70 Prozent der Teilnehmer, sie hätten kein Zutrauen in die EU. Deutschland brachte die Italiener anfangs mit Exportbeschränkungen für Schutzkleidung gegen sich auf. Auch andere EU-Staaten machten Grenzen dicht, riskierten Riesenstaus, bremsten Reisende und wichtige Waren aus. «Die ersten Reflexe, auch unsere eigenen, waren eher national und nicht durchgehend europäisch», räumt Merkel selbstkritisch ein.

Inzwischen hat sich die Lage deutlich verändert. Der Groll auf Deutschland ist in Italien nach Merkels Kehrtwende beim Wiederaufplan verflogen. Jetzt schaut man dort nach vorne und hofft auf deutsche Touristen. Merkel hat die Mehrheit der EU-Länder hinter sich. Österreich, Schweden, Dänemark und vor allem die Niederlande stemmen sich noch gegen ihren Kurs. Aber in der Bundesregierung herrscht Zuversicht, dass man den ersten großen Brocken der Präsidentschaft in einer langen Nachtsitzung beim Gipfel am 17. und 18. Juli in Brüssel abräumen kann.

Eine Einigung wäre die halbe Miete für eine erfolgreiche Präsidentschaft. Die andere Hälfte ist die Regelung der Beziehungen zu Großbritanniens nach dem Austritt aus der EU - ein ähnlich dickes Brett. Spätestens bis Mitte November muss es einen Kompromiss geben, andernfalls droht zum Jahreswechsel ein harter wirtschaftlicher Bruch nach dem Brexit mit einschneidenden Folgen auf beiden Seiten.

Was dazwischen sonst noch geht, wird man sehen. In der Opposition in Berlin - aber auch in Teilen der SPD - befürchtet man, dass einige wichtige Themen wegen der Corona-Pandemie hinten runter fallen könnten. Der Klimaschutz zum Beispiel, die Digitalisierung, soziale Themen oder auch die nicht ganz unwichtige Frage, wie sich die EU in der erodierenden Weltordnung zwischen den Großmächten China und USA positioniert. Merkel wollte dazu als Höhepunkt der Präsidentschaft im September einen EU-China-Gipfel in Leipzig ausrichten. Der ist nun wegen Corona erst einmal verschoben.

«Einerseits braucht es gerade in der größten EU-Bewährungsprobe eine Ratspräsidentschaft mit Macht und Gestaltungswillen, andererseits sollte Deutschland nicht als übermächtig wahrgenommen werden», fasst die Stiftung Wissenschaft und Politik zusammen. Denn das Doppel mit von der Leyen, Merkels einstiger Ministerin und Vertrauter, weckt bisweilen auch Misstrauen. Von Merkel wird Führung erwartet, aber bitte nicht zu viel. Pragmatismus, aber bitte nicht ohne Begeisterung. Fingerspitzengefühl, aber auch der nötige Druck. Es wird ein wahrhaft europäischer Balanceakt für Angela Merkel im Herbst ihrer Kanzlerschaft.


Merkel trifft Macron wenige Tage vor deutscher EU-Ratspräsidentschaft

BERLIN/PARIS: Kurz vor Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft trifft sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am kommenden Montag mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron im brandenburgischen Meseberg. Die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer sagte am Mittwoch in Berlin, das Treffen solle ein Signal für die engen deutsch-französischen Beziehungen sein. Es sei der erste ausländische Besuch eines ausländischen Staatsgasts in Deutschland seit dem massiven Ausbruch der Corona-Pandemie.

Thema ist nach Angaben aus dem Élyséepalast in Paris unter anderem der europäischen Wiederaufbauplan von 750 Milliarden Euro, den Macron und Merkel mit einer gemeinsamen Initiative im Mai angestoßen hatten. Demmer erklärte, es gehe um den Wiederaufbau Europas nach der Pandemie sowie andere europapolitische und internationale Themen.

Am 1. Juli übernimmt Deutschland für ein halbes Jahr die europäische Ratspräsidentschaft. Die Erwartungen an die Bundesregierung sind groß. Sie will die Bewältigung der Corona-Krise in den Mittelpunkt ihrer EU-Ratspräsidentschaft stellen. Das Kabinett beschloss am Mittwoch ein 24-seitiges Programm, in dem der sechsmonatige Vorsitz unter das Motto gestellt wird: «Gemeinsam. Europa wieder stark machen.» Mit der Corona-Pandemie stehe die Europäische Union «vor einer schicksalhaften Herausforderung», heißt es in dem Programms.

Auf dem Tisch liegt ein Vorschlag für einen Konjunktur- und Investitionsplan im Umfang von 750 Milliarden Euro. Davon sollen 500 Milliarden Euro als Zuschüsse an die EU-Staaten fließen, der Rest als Kredite. Das Wiederaufbauprogramm soll zusammen mit dem EU-Haushaltsrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 im Umfang von 1,1 Billionen Euro verhandelt und beschlossen werden.

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