KAIRO/TEL AVIV: Bei Israels Offensive in Süd-Gaza käme der Krieg in direkte Nähe Ägyptens. Kommen dann Flüchtlinge oder Geschosse über die Grenze, wird der 45 Jahre alte Friedensvertrag auf eine harte Probe gestellt.
Betonmauer und Stacheldraht, Abschnitte mit neuen Wänden und Absperrungen aus Stahl: Die Anlagen rund um den Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen sollen noch stärker werden, noch schwerer zu überwinden. Arbeiten hätten begonnen, um die Grenze zu verstärken, berichtete die Nachrichtenseite «Mada Masr» jüngst. In Ägypten wartet man angespannt auf die angekündigte Offensive der israelischen Armee im Süden Gazas - direkt hinter der Mauer, sozusagen gleich vor der eigenen Haustür.
Mit einem Vormarsch israelischer Truppen nach Rafah würde der Krieg in unmittelbare Nähe zum ägyptischen Staatsgebiet rücken. In Kairo wächst die Sorge, dass viele der 1,5 Millionen palästinensischen Zivilisten aus Rafah flüchten und über die Grenze strömen könnten. Sollten israelische Geschosse - wenn auch ungewollt - auf ägyptischem Boden landen, würde der Friedensvertrag beider Länder von 1979 auf eine harte Probe gestellt.
45 Jahre liegt dieser Friedensvertrag mittlerweile zurück. Es war das erste Mal, dass ein arabisches Land Israel anerkannte. Israel zog sich im Gegenzug von der 1967 besetzten Sinai-Halbinsel zurück. Die Einigung folgte auf vier blutige Nahostkriege. Auch wenn bis heute ein eher «kalter Frieden» herrscht, führte der Vertrag die beiden Staaten zu einer vergleichsweise stabilen Nachbarschaft.
Israels Führung will sich derzeit eine Beendigung des Gaza-Kriegs aber nicht ohne ein Vorrücken ihrer Streitkräfte in die Grenzstadt Rafah vorstellen. «Es ist unmöglich, das Kriegsziel der Eliminierung der Hamas zu erreichen, wenn vier Hamas-Bataillone in Rafah verbleiben», erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am 9. Februar. An dem Tag gab er bekannt, dass er der Armee den Befehl erteilte, Planungen für eine Rafah-Offensive auszuarbeiten. Diese müssten aber auch ein Konzept für die Evakuierung der mittlerweile 1,5 Millionen Zivilisten in der Stadt beinhalten.
International gibt es laute Kritik an dem angekündigten Einsatz in der überfüllten Stadt. UN-Generalsekretär António Guterres warnte vor «verheerenden» Folgen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor einer «Katastrophe von neuem Ausmaß», US-Präsident Joe Biden forderte «einen glaubwürdigen Plan» zum Schutz der Zivilisten. Netanjahu hält an den Plänen fest und sagte am Samstag, man werde sich internationalem Druck nicht beugen. «Wer uns an dem Einsatz in Rafah hindern will, sagt uns letztlich «Verliert den Krieg».»
Im Raum stehen viele Fragen. Wie etwa soll diese enorme Zahl an Menschen, unter ihnen viele Verletzte, Kranke, Gebrechliche, Kinder und nach den monatelangen Kriegshandlungen Erschöpfte, bewegt werden? Wo sollen die Betroffenen hin? Und wie werden sie dann dort, wo sie hinsollen, mit humanitärer Hilfe und kommunalen Diensten versorgt?
Darüber macht man sich auch in Kairo Gedanken. Auf ägyptischer Seite wird Sicherheitskreisen zufolge schon eine Pufferzone errichtet, um in Zelten und Gebäuden bis zu 100.000 Menschen unterzubringen. Auch die in London ansässige Sinai Foundation for Human Rights und das «Wall Street Journal» berichteten von dieser Pufferzone als riesiges Auffanglager für Palästinenser, umgeben von einer sieben Meter hohen Mauer.
Der Leiter des Staatsinformationsdiensts (SIS), Diaa Raschwan, wies die Berichte allerdings zurück. Nach seiner Darstellung wurden Pufferzone und Zäune schon lange vor Kriegsbeginn errichtet. Der Gouverneur im Nord-Sinai, Mohammed Schuscha, sprach seinerseits von einer «logistischen Zone», um Hilfslieferungen nach Gaza zu erleichtern, darunter mit Lagerhallen, Lkw-Parkplätzen und Unterkünften für die Fahrer. Schuscha betonte zugleich, dass man keine «Zwangsmigration» der Palästinenser nach Ägypten zulassen werde.
In diplomatischen Kreisen soll Kairo bereits Vorwarnungen in Umlauf gebracht haben. Sollte Israel versuchen, Palästinenser irgendwie über die Grenze in den Sinai zu drängen, würde Ägypten dies als Verstoß gegen den gemeinsamen Friedensvertrag betrachten, berichteten US-Medien unter Berufung auf Diplomaten. Für solch einen Fall habe Ägypten sogar damit gedroht, den Vertrag selbst auszusetzen. Am Sonntag wurde bekannt, dass Ägypten Israel nun vor dem IGH, dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen, illegale Praktiken in den Palästinensergebieten vorwerfen will.
Dass der Krieg schnell über die Grenze kommen kann, zeigte sich im Oktober: Israelischer Beschuss traf einen ägyptischen Militärposten, mehrere Grenzsoldaten wurden durch Splitter des Panzergeschosses leicht verletzt. Israels Militär sprach von einem Versehen und entschuldigte sich. Ägypten erklärte später, dass israelische Militärflugzeuge den Grenzübergang Rafah «viermal bombardiert» hätten.
Die Frage ist auch, wie weit Israel gehen kann, ohne es sich mit Ägypten zu verscherzen. Die Sicherheitszusammenarbeit zwischen den beiden Ländern auch an der Gaza-Grenze und dem sogenannten Philadelphi-Korridor gilt insgesamt als vertrauensvoll. Diesen schmalen, 14 Kilometer langen Streifen entlang der Grenze Gazas mit Ägypten kontrollieren seit dem Abzug Israels aus dem Gebiet im Jahr 2005 bis zu 750 ägyptische Grenzsoldaten. Auf palästinensischer Seite war es zuletzt die Hamas, die in dem Küstengebiet 2007 gewaltsam die Macht an sich gerissen hatte.
«Beide Länder verbindet eine lange Liste gemeinsamer Interessen», schreibt der israelische Thinktank INSS. Darunter der «wechselseitige Wunsch, die Hamas in Gaza zu schwächen und den Gazastreifen zu entmilitarisieren», sowie das Abwenden einer Situation, in der das Küstengebiet zu einem «Terrornest» wird, das beide Länder bedroht.
Auf ägyptischer Seite hofft man, dass Israels Armee die Grenze auch als solche verstehen wird. Ägyptens Außenminister Samih Schukri sagte bei einem Besuch in Ljubljana der slowenischen Nachrichtenagentur STA zufolge: «Ägypten wird den vor mehr als 40 Jahren geschlossenen (Friedensvertrag) respektieren, solange Israel ihn respektiert.»