Die große Angst vor dem No-Deal-Brexit

Foto: epa/Facundo Arrizabalaga
Foto: epa/Facundo Arrizabalaga

LONDON (dpa) - Das Leben kurz vor dem Brexit: Für mehr als drei Millionen Europäer in Großbritannien bedeutet das vor allem Ungewissheit. Drei von ihnen erzählen ihre Geschichte - vom Hoffen und Bangen um eine Zukunft nach dem EU-Austritt.

Kaum etwas macht Maria Llorente so viel Angst wie ein Brexit ohne Abkommen. Llorente wartet an einem Abend Mitte Februar mit Freuden am Bahnhof Waterloo in London auf ihren Zug. An der Bluse der Spanierin steckt der Button von «the 3 million» - einer Organisation, die sich für die Rechte der etwa 3,8 Millionen EU-Bürger in Großbritannien einsetzt.

Die Gruppe kommt gerade von einer Info-Veranstaltung der Regierung zum Brexit. Ihre Sorgen konnte Llorente dort niemand nehmen. «Es geht hier in erster Linie nicht um mich, sondern um meine Eltern», sagt die 47-Jährige, die seit langem in Großbritannien lebt. Vor fünf Jahren holte Llorente ihre Eltern zu sich. Ihre Mutter war an Demenz erkrankt und konnte sich nicht mehr selbst versorgen.

Sollte EU-Bürgern nach einem No-Deal-Brexit der Zugang zum britischen Gesundheitssystem NHS verwehrt werden, müsste Llorente mit der ganzen Familie nach Spanien umsiedeln. Und das, obwohl ihr Mann Brite ist und das Paar einen zehnjährigen Sohn hat.

Die britische Regierung beschwichtigte zwar. Alles werde gut, sie solle sich keine Sorgen machen, habe man ihr gesagt, erzählt Llorente. Doch Gewissheit kann ihr zu diesem Zeitpunkt niemand geben.

Am kommenden Mittwoch soll das Parlament in London erneut über die weiteren Schritte im Brexit-Prozess abstimmen. Gut fünf Wochen vor dem Austritt am 29. März ist noch immer nicht klar, ob es ein Abkommen geben wird oder das Land ungeregelt aus der EU kracht.

Llorente selbst lebt lange genug in Großbritannien, um die britische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Ihre Eltern können sich lediglich für ein Bleiberecht, den sogenannten Settled Status, bewerben.

Bewerben - ein Wort, das Llorente Probleme bereitet. «Uns wurde versprochen, dass wir hier bleiben dürfen. Wir sollten uns nicht bewerben müssen.» Sie fordert ein unkompliziertes Verfahren bei den lokalen Behörden statt eines Online-Bewerbungsprozesses mit ungewissem Ausgang.

Für die Zeit nach dem Brexit müssen sich EU-Bürger in Großbritannien registrieren. Wer schon mehr als fünf Jahre im Land ist, hat direkt Anspruch auf ein Bleiberecht. Doch die Beweislast liegt am Ende beim Antragsteller. Kritiker fürchten, dass dabei viele Menschen durchs Raster fallen könnten, zum Beispiel Freiberufler und Rentner.

Auch für Julia Stryj steht bei einem Brexit ohne Abkommen viel auf dem Spiel. Ein «No Deal» könnte das Ende ihrer Selbstständigkeit bedeuten, sagt die 48-Jährige. Die Deutsche vermarktet seit 13 Jahren in Schottland Räucherlachs. Grenzkontrollen, Zollgebühren und eine Menge Bürokratie: Die Folgen eines No-Deal-Brexits würden Stryjs kleines Unternehmen vermutlich in den Ruin treiben.

«Ein Großteil unserer Kunden kommt aus dem EU-Ausland», sagt sie. Auch viele ihrer Lieferanten. «Wir kaufen aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz ein.» Für Räucherlachs würden bei einem ungeregelten Brexit Zölle von 14 Prozent anfallen. Das sei damals auf Druck Großbritanniens EU-weit eingeführt worden, um die norwegische Konkurrenz fernzuhalten. Stryj, ihr französischer Geschäftspartner und deren Angestellte könnten die höheren Kosten und den zusätzlichen Arbeitsaufwand nicht stemmen.

Manche EU-Bürger haben bereits selbst eine Entscheidung getroffen, eine von ihnen ist Sabine Schütte. Die 46-Jährige will Großbritannien verlassen, sobald ihr Sohn das Gymnasium abgeschlossen hat. Als in Australien geborene Tochter eines Deutschen und einer Französin hat sie viele Möglichkeiten. «Am schwersten ist es für meinen Sohn, der ist der Britischste von uns allen», so Schütte. Vier Monate war ihr Sohn alt, als sie nach Großbritannien zog.

Als Deutsch-Französin sei sie quasi die Mensch gewordene Repräsentation der EU, lacht Schütte. Weil sie jedoch akzentfrei Englisch spricht, ist ihrem Umfeld oft gar nicht bewusst, dass sie «eine von denen» ist.

Selbst die schönen Momente in ihrer Wahlheimat London kann Schütte nicht mehr richtig genießen - weil sie weiß, dass sie gehen wird. «Ich bleibe nicht, um diese Nation zu vereinen», sagt sie entschlossen, «das ist nicht meine Agenda». All das sei viel zu schmerzhaft, sagt Schütte und wird leise. «Ich fühle mich nicht mehr zugehörig.»

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Jürgen Franke 24.02.19 18:18
Herr Müller, Ihr Kommentar spiegelt exakt
die Meinung vieler Leser wider, wenn man einige Fakten, die ich hier kurz anführe, nicht berücksichtigt. Dass wir in Europa nun 70 Jahre friedlich zusammen leben, ist so selbstverständlich, dass es heute nicht mehr erwähnt werden muss. Aus Feinden wurden Freunde. Grundsätzlich wurde bisher keine Land gezwungen, Mitglied in der EU zu werden. Wer jedoch Mitglied ist, hat sich auch an Verträge zu halten. England wurde erst Anfang 1970 Mitglied der EU, auf ausdrücklichen Wunsch Deutschalands und gegen den Willen Frankreichs. Die Mitgliedschaft Großbritanniens hat die EU sehr bereichert. Es bedarf keiner Frage, dass der Regulierungswahn in Brüssel, Blüten geschlagen hat, die es auszumerzen gilt. Mit der Einführung des Euros begann der Untergang der EU, da sich auch hier einige Staaten, darunter Griechenland, Frankreich, Italien nicht an die Verträge hielten und sich verschuldeten, ohne notwendige Reformen in ihrem Land durchzuführen. Diese Blase wird nun in absehbarer Zeit platzen.
Norbert Kurt Leupi 24.02.19 10:10
Das Ende ist abzusehen...
im "Michelland ",dort lebten und arbeiteten die Leute hart und zahlten viele (aber nicht alle) Steuern ! Sie zogen Zipfelmützen über die Augen und die Ohren , damit man nicht alles sah und hörte! Das war den Politheinis genehm und es wurde ein Erlass ,das Zipfelmützentragen wurde zum Muss !Die Träger schufteten fleissig und die Mächtigen machten fleissig Versprechungen wie , die Rentenkassen seien voll ! Da wollten die MICHEL die Früchte ihrer Arbeit sehen und zum Erschrecken waren die Kassen nicht voll , sondern es gab sie gar nicht mehr ! Dafür sassen die Michel auf einem Riesen-Schuldenberg ,der Proteste auslöste!Das duldeten die Regenten nicht und holten Millionen von NICHTMICHELS ins Land !Die Neulinge wollten auch so leben wie die Michel , also wurden die Michel wieder zur Kasse gebeten! Als Unmut aufkam, beschloss man , das soziale System zu zerstören , für das die Michel Jahrzehnte gearbeitet hatten !Obwohl sie in zig Jahren viel in die Sozial-Kassen eingezahlt hatten,gabs bei Arbeitslosigkeit nur noch ein Jahr Arbeitslosengeld ! Danach mussten sie alles veräussern ,was sie hatten ,um zu Ueberleben !Auch die Familienangehörigen wurden vom Staat belangt und als auch die ausgeplündert waren, gabs ein paar "TEUROS" zum Ueberleben ! Und wer das heutzutage nicht glaubt , muss halt die Zipfelmütze endlich hochziehen, dass er wieder sieht und hört ,was im Michelland passierte ! Es war einmal, aber es wird alles wieder gut,wo die NICHTMICHELS die Zukunft bestimmen!
Mike Dong 23.02.19 16:26
Schon einmal hat es "splendid isolation" in der UK Politik gegeben. Dies funktionierte zwar im 19. Jahrhundert gut, im 21. Jahrhundert mit Internet u sozialen Medien aber eben nicht mehr. Niemand, selbst die Befürworter des Brexit hat jemals daran geglaubt. Jetzt wird das wohl durchgezogen (werden müssen), koste es was es wolle. Volkswirtschaftlich sicher ein äusserst schlechter Deal. In einigen Jahren wird es nach meiner Meinung wieder eine engere Kooperation zw UK u EU geben. Besonders für junge, gut ausgebildete Leute und die Wissenschaft ein wirklicher Verlust.
Jürgen Franke 23.02.19 15:24
Dieser Redaktionsbericht spiegelt einen Teil
der Probleme wider, die sich zur Zeit in Großbritannien abspielen. Der Schock für die Engländer war seinerzeit die Öffnung der Grenzen, die ausschlaggebend zu dem Wahlergebnis: Brexit geführt hat.