Die Seele baumeln lassen,– null drei, null fünf?

Ein Pattayaner auf Sommereise, Teil 6: Berlin

Löschwassereinspeisungen an allen Häusern.
Löschwassereinspeisungen an allen Häusern.

In Berlin anzukommen, war nicht ganz einfach. Zuerst hatten sie da niemanden, der das Finger Dock an den Flieger schieben konnte, mindestens 10 Minuten waren die Passagiere Gefangene. Dann hatten sie auch keine Zöllner, die Schlange war fast unendlich lang. Und schliesslich dauerte es auch noch ewig, bis das Gepäck endlich kam. Es dauerte über eine Stunde, bis ich endlich im Taxi sass, das mich zu Rogers Wohnung bringen sollte. Der schwarze Taxifahrer sprach nur gebrochen Deutsch, aber er kannte die Welserstrasse sofort. Anders als in Thailand, lernen die Taxifahrer in Europa ihren Beruf, müssen Prüfungen in Geographie ablegen und kennen deshalb den Weg. Etwa 15 Minuten später stand ich vor Rogers Haus und läutete. Auch die Gegensprechanlage funktionierte.

Am nächsten und alle folgenden neun Tage zog ich stundenlang meine Runden durch Berlin, das ich schon seit 35 Jahren kenne. Die Sonne schien, es war warm, aber nicht heiss. All diese schrecklichen Gebäude, die kurz nach dem Krieg aus dem Boden gestampft wurden, stören mich. Sie verschandeln grosse Teile der Stadt. Immer noch finden sich Trümmergrundstücke, Lücken in den Gebäudereihen, der Zweite Weltkrieg ist immer noch spürbar, nicht nur an der Gedächtniskirche. Wahrscheinlich sind auch diese auffälligen "Löschwassereinspeisungsrohre" an jedem Haus auf das Trauma der Bombardierungen zurückzuführen, ich kenne sie jedenfalls nur aus Berlin.

Das Holocaust Museum.
Das Holocaust Museum.

Ich gehe wieder mal an die Kochstrasse, wo sich der bekannte Checkpoint Charley befand, als die Mauer noch stand. Dann das Holocaust-Museum besuchen, das ich noch nie gesehen hatte. Dann weiter zum Potsdamer Platz, wo sie den Versuch einer monumentalen Stadtreparatur unternahmen, weil im Zweiten Weltkrieg hier ja die ganze Innenstadt zerstört wurde. Ich schaue mir das einmal mehr mit gemischten Gefühlen an. Gerade gemütlich finde ich diesen Potsdamer Platz nicht. Der neue gläserne Hauptbahnhof ist allerdings eine Meisterleistung. Hier mit der S-Bahn anzukommen oder abzufahren ist ein Vergnügen. Die S-Bahn ist mein beliebtestes Fortbewegungsmittel in dieser Stadt, weil man da etwas sieht. Das zweitbeste sind die Busse, die sich an den Haltestellen nach rechts neigen, damit die Passagiere bequem einsteigen können. Im oberen Stock erschrickt man immer wieder, weil ab und zu Äste aufs Dach schlagen, unheimlich.

Überall in Berlin – sogar am Flughafen - gibt es diese Bettler. Sie treten als Zeitungsverkäufer von völlig sinnlosen Zeitungen auf. Sie verkaufen Zeitungen, die angeblich von Obdachlosen gemacht werden, und andere, die angeblich von Arbeitslosen gemacht werden. In Tat und Wahrheit werden sie von ziemlich unfähigen Sozialarbeitern gemacht, die sonst selber arbeitslos wären. Diese Zeitungen sind nutzlos wie ein Kropf und dienen als Vorwand zur Bettelei. Berlin ist keine reiche Hauptstadt, ein wenig wie Brüssel, wo die Arbeitslosigkeit 20% beträgt, aber die Berliner sind alles in allem viel aufgestellter, lustiger, freundlicher. Aber reich, wie in München, sind sie hier noch lange nicht. Dafür weniger eingebildet, jovialer.

Der neue Hauptbahnhof.
Der neue Hauptbahnhof.

Ich liebe es, durch all diese Berliner Strassen zu flanieren. Ich steige in einen Bus und bin dann irgendwo in dieser weitläufigen Stadt. Heute auf dem Prenzlauer Berg. Dieser Teil von Berlin wurde im Krieg nur wenig in Mitleidenschaft gezogen, nach der Wiedervereinigung zog die linke Szene hierher. Die nahe gelegene "Städtische Blindenanstalt" ist sinnigerweise mit sehr grossen Buchstaben sehr deutlich angeschrieben, wahrscheinlich wegen der Halbblinden. Durch das Herz des Prenzlauer Bergs zieht sich die Kastanienallee. Ich laufe diese lebendige Strasse rauf und runter. Einige der Häuser sollten dringend renoviert werden, aber die Bewohner wollen nicht ausziehen, eine politische Frage. Der Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, ist in einer Koalition mit der sogenannten Linkspartei, der früheren SED. Eines der Häuser ist mit antik anmutenden antikapitalistischen Sprüchen vollgeschrieben: "Kapitalismus normiert, zerstört, tötet." Na, ja. Aber einer der Sprüche ist wirklich nett: "Berlin ohne Tuntenhaus ist wie ein Garten ohne Blumen." Ein heruntergekommenes Ladenlokal trägt das merkwürdige Schild: "Nicht zu vermieten." Ich hatte keinen solchen Plan und werde jetzt wohl schon bald ins geliebte Pattaya zurückkehren.

Auf dem Weg zurück mache ich oft Station in der Nähe des Wittenbergplatzes, und zwar bei Schlemmermeyer an der Tauentzienstrasse. Ich kenne die Firma von meinem Besuch in München, wo sie am wunderbaren Viktualienmarkt ebenfalls vertreten ist. Vor einigen Jahren wurde die Berliner Filiale eröffnet, die ein durchschlagender Erfolg war, es hat hier immer eine Menge Kunden. Ich mampfe genüsslich eine Semmel mit Leberkäse, eine solche Qualität ist in keinem deutschen Restaurant in Pattaya zu finden. Die lokalen Würste, speziell die so berühmten Currywürste, sagen mir hingegen gar nichts. Ein Zigarettenautomat am Wittenbergplatz nimmt Kreditkarte: "Mit Karte, ohne kompliziert."

So ist das also?
So ist das also?

Und dann betrete ich den Prinz Eisenherz, die bekannte schwule Buchhandlung von Berlin. Es ist ein grosses Vergnügen, durch die DVDs und Bücher zu gehen, die sie da am Lager haben. Sie führen sogar Simon Bischofs alten Film: "Er Moretto – von Liebe leben” über die jungen Strichjungen von Rom. Ich kaufe "Notizbuch eines Schriftstellers” von W. Somerset Maugham, "Versuch über die Pubertät" und "Die Palette" von Hubert Fichte, der 1986 an Aids gestorben ist. Ich kenne beide Fichtetitel und bin ziemlich sicher, dass sie auch heute noch lesenswert sind, ich werde sie am Jomtien Strand bald wieder lesen, es gibt keinen besseren Ort dafür. Ich kaufe noch einen Roman von Friedrich Kröhnke, der bereits 1999 publiziert wurde. In Thailand verpasst man solche Sachen eben. Bücher und Buchläden wie dieser fehlen in Pattaya eindeutig. In der Wohltatschen Buchhandlung, wo wohlfeile Bücher angeboten werden, kaufe ich Songs mit Marlene Dietrich und ein musikalisches Porträt von Werner Richard Heymann, dem Komponisten von Liedern wie "Das gabs nur einmal" und "Das süsseste Mädel der Welt".

Pfifferlinge gibt es jetzt an jeder Ecke von Berlin. Sie werden an einer Sahnesauce mit kleinen Speckstücken zubereitet. In den ausgedehnten Wäldern um Berlin wachsen sie überall. Das Kilo im Kaufhaus kostet nur 9.90 Euro. Ich esse fast jeden Tag Pfifferlinge. Bei Foodland haben sie keine, hier hingegen gibt es sie in jedem Restaurant. Ich esse sie auch auf meinem Ausflug nach Potsdam, wo ich mir die malerische Altstadt, den Park und Schloss Sanssouci anschaue, ein absolutes Muss für eine Queen in Berlin. Hier haben sie "den-billigbestatter", der zu bedenken gibt: "Eine würdevolle Bestattung muss nicht teuer sein".

Orientierungshilfe in Berlin.
Orientierungshilfe in Berlin.

Roger, mein Gastgeber, geht heute nach Thailand zurück, und natürlich will er, dass ich ausziehe, denn da müssen alle möglichen Dinge abgeschaltet werden, wenn eine Wohnung mehrere Monate leer steht. Ich habe mich an das Quartier gewöhnt und ziehe ins benachbarte Stars Gästehaus, ebenfalls an der Welserstrasse gelegen. Im Moment haben sie gerade ein Sonderangebot, das riesige Zimmer mit Fernseher, Eisschrank, Safe und 24 Stunden Internet kostet nur 39 Euros. Berlin ist ohnehin die günstigste Stadt auf dieser Sommerreise. Alles wird ständig als "saubillig" angepriesen. Das Badezimmer ist auf dem Flur, aber für eine kurze Zeit ist das für einen verwöhnten männlichen Einzelreisenden akzeptabel, es gibt auch das typisch Berlinerische Pensions-Gefühl, wie Christopher Isherwood es in seinen Sachen so gut beschreibt. Ich komme mir ein wenig vor wie Sally Bowles in der Pension des Fräulein Schneider.

Auch sprachlich war dieser Berlin-Aufenthalt sehr lohnend. Man kann hier noch die "Seele baumeln lassen". Auf Schildern in der Nähe der Siegessäule wird einem hingegen deutsch und deutlich der Tarif durchgegeben: "Geschützte Grünanlage – Radfahren auf befestigten Wegen erlaubt – Fussgänger haben Vorrang", "Grillen verboten" und "Betreten bei Schnee und Glätte auf eigene Gefahr". Das Leben ist auch in Berlin lebensgefährlich. "Schwedisch für Fortgeschrittene" kommt für mich nicht in Frage, ich spreche kein Wort dieser seltsamen Sprache, da arbeite ich besser an meinem Thai. Das Bier bestellt man als: null drei oder auch als null fünf, doch aufgepasst, manchmal gibt es nur null vier. Es gibt Strudel oder stille Wasser. "Unberechtigt parkende Fahrzeuge werden kostenpflichtig abgeschleppt". Die Bar "Heile Welt", nicht weit vom Nollendorfplatz, scheint endgültig geschlossen zu haben. Da kehrt man wirklich besser nach Pattaya zurück.

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