Erst Hungerstreik, dann Erlösung: Bootsmigranten dürfen an Land

Migranten halten Transparente mit der Bitte um Hilfe an Deck des unter norwegischer Flagge fahrenden Schiffes «Geo Barents», das von «Ärzte ohne Grenzen» betrieben wird, im Hafen von Catania. Foto: Salvatore Cavalli/Ap/dpa
Migranten halten Transparente mit der Bitte um Hilfe an Deck des unter norwegischer Flagge fahrenden Schiffes «Geo Barents», das von «Ärzte ohne Grenzen» betrieben wird, im Hafen von Catania. Foto: Salvatore Cavalli/Ap/dpa

CATANIA/REGGIO CALABRIA: Im Hafen von Catania spielen sich unter Bootsmigranten dramatische Szenen ab. Männer treten in Hungerstreik. Deutsche Retter rufen Gerichte an. Ein Kapitän findet klare Worte. Italien bleibt zunächst hart - ehe es am Abend doch noch die erlösenden Nachrichten gibt.

Freude und Leid sind vor der süditalienischen Küste nur wenige Seemeilen und wenige Stunden voneinander entfernt. Während fast 250 Menschen auf zwei Schiffen im Hafen von Catania verzweifelt darauf warteten, endlich von Bord gelassen zu werden, hat die Crew der deutschen «Rise Above» alle 89 Migranten an Land gebracht. Am Dienstagmorgen verließen die Frauen, Männer und Kinder das Boot der Organisation Mission Lifeline im Hafen von Reggio Calabria. Nun müsse auch die «politische Geiselnahme» auf den anderen Schiffen beendet werden, twitterte der Dresdner Verein.

Am Abend war es dann soweit. Nach zwei Tagen Warten erlaubten die italienischen Behörden, dass 35 Menschen von der deutschen «Humanity 1» und 213 von der norwegischen «Geo Barents» an Land gehen durften. Anders als am Wochenende hätten nun medizinische Gründe dafür gesprochen. «Rettung abgeschlossen», meldete eine Helferin von Ärzte ohne Grenzen unter dem Jubel der Crew. Kurz darauf bestätigte Petra Krischok vom deutschen Verein SOS Humanity, dass alle Geretteten an Land seien.

Zwei Wochen nach Amtsantritt der ultrarechten Regierung war der erste große Konflikt zwischen der migrantenfeindlichen Rechtskoalition und den internationalen Seenotrettern teils eskaliert. Rom hatte die zwei Organisationen aufgefordert, Catania mit ihren Schiffen und den vielen geretteten Menschen zu verlassen. Beide weigerten sich.

Auf der deutschen «Humanity 1» waren rund 30 der 35 Migranten in den Hungerstreik getreten. Die Männer teilten der Crew mit, dass sie seit 40 Stunden nichts mehr gegessen hätten und dass die Öffentlichkeit dies erfahren solle. Die Situation an Bord hatte sich zugespitzt. Es werde «geltendes Recht mit Füßen getreten», sagte Kapitän Joachim Ebeling. «Wenn ich sehe, dass bei mir Menschen an Bord sind, die das Recht haben, an Land zu gehen, aber von den Behörden daran gehindert werden, dann bin ich einfach nur wütend.» Der Bremer unterstrich, dass er das Schiff erst dann fortbewegen werde, wenn alle Migranten an Land seien. Wie es nun weitergeht, war am Dienstagabend zunächst unklar.

Die Crew hatte davor versucht, den 35 Männern Mut zu machen und die Angst zu nehmen, dass sie nach Libyen gebracht werden könnten, wo sie ihre Überfahrt in Booten angetreten hatten. Viele sagten, dass sie lieber ertrinken würden, als in das Bürgerkriegsland zurück zu müssen.

Die Organisation SOS Humanity leitete bereits juristische Schritte ein. Bei einem Gericht in Catania wurden Asyl-Eilanträge für die 35 Migranten gestellt. Ein Anwalt reichte daneben beim Verwaltungsgericht in Rom Beschwerde gegen einen Erlass des Innenministeriums der neuen italienischen Regierung ein. Der Erlass sieht vor, dass die «Humanity 1» die italienischen Gewässer wieder verlassen und alle Migranten mitnehmen muss, bei denen keine Notsituation vorliege.

Wenige Meter neben dem deutschen Schiff war die «Geo Barents» vertaut. «Help», schrieben die Leute dort auf Kartonschilder. Drei Männer sprangen am Montag ins Hafenbecken, um an Land zu schwimmen. Zwei weigerten sich danach, auf das Schiff zurückzukehren. Sie übernachteten deshalb in einem Kleintransporter auf der Mole und warteten auf gute Nachrichten, die schließlich am Abend kamen.

Ein viertes Schiff, die «Ocean Viking», machte sich mit 234 Migranten an Bord auf den Weg nach Frankreich, weil von Rom nach tagelangem Warten keine Antwort auf das Gesuch nach einem Hafen auf Sizilien kam. Die Organisation SOS Méditerranée sprach von einem «kritischen und dramatischen Versagen aller europäischen Staaten». Einige der Geretteten seien schon mehr als zwei Wochen auf dem Schiff.

Wie schon am Montag hatte Brüssel Italien erneut aufgefordert, alle Geretteten an Land zu lassen. Eine Sprecherin der EU-Kommission betonte, dass die Migranten nach EU-Recht Zugang zum Asylverfahren in Italien haben müssten. Es gebe einen klaren Rechtsrahmen.

Auch Deutschland, unter dessen Flagge die «Humanity 1» fährt, war mit Rom im Austausch. Es sei «wichtig, dass alle geretteten Menschen von den Schiffen an Land gehen können und tatsächlich auch alle angemessen versorgt werden können», hatte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes am Montag gesagt.

Überraschend kam das Vorgehen aus Rom nicht. Die rechten Parteien hatten bereits im Wahlkampf angekündigt, Bootsmigranten stoppen zu wollen. Innenminister Matteo Piantedosi hatte die Menschen, die auf dem Boot bleiben müssen, jüngst als «restliche Ladung» bezeichnet, die den Hafen verlassen soll. Von der Opposition und Hilfsorganisationen wurde er dafür scharf kritisiert. Piantedosi war im Jahr 2019 Bürochef im Innenministerium unter Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega, der schon damals Booten mit Geflüchteten die Einfahrt in italienische Häfen verbot.

Dabei kommt nur ein kleiner Teil der Migranten auf NGO-Schiffen nach Italien. Das Innenministerium in Rom zählte Stand Montag mehr als 88.000 Bootsmigranten, die das Land in diesem Jahr erreichten - die allermeisten schaffen es mit eigenen Booten in italienische Gewässer.

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