Berlin warnt Warschau in Streit um EU-Recht

Michael Roth, deutscher Staatsminister für Europa im Bundesaußenministerium. Foto: epa/Jonas Ekstromer
Michael Roth, deutscher Staatsminister für Europa im Bundesaußenministerium. Foto: epa/Jonas Ekstromer

LUXEMBURG: Bei der Verteidigung einer höchst umstrittenen Justizentscheidung verweist Polen immer wieder auf das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Zu Recht? Aus der Bundesregierung und aus Karlsruhe kommen klare Worte zum Thema. Sogar das Wort «schamlos» fällt.

Europastaatsminister Michael Roth hat die polnische Regierung dazu aufgerufen, die umstrittene Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts zum EU-Recht nicht mit Urteilen des deutschen Bundesverfassungsgerichts in Verbindung zu bringen. «Ich warne davor, Äpfel mit Birnen zu vergleichen», sagte der SPD-Politiker am Dienstag am Rande eines EU-Ministertreffens in Luxemburg. Das, was das Tribunal in Warschau entschieden habe, sei «ohne Beispiel», weil es in bestimmten Bereichen EU-Recht als nicht verbindlich darstelle. «Eine solche Rechtsprechung und eine solche Entscheidung hat es noch in keinem anderen Mitgliedsland gegeben.»

Zugleich räumte Roth ein, dass auch anderswo schon Entscheidungen von nationalen Verfassungsgerichten Kontroversen hervorgerufen haben. Ein Beispiel ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen Jahr, mit dem das Gericht ein EuGH-Urteil zu milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank mit harschen Worten («objektiv willkürlich», «methodisch nicht mehr vertretbar») vom Tisch wischte.

Die EU-Kommission hat wegen der Entscheidung ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil sie im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass EuGH-Urteile immer Vorrang vor nationalem Recht haben.

In Karlsruhe wird unterdessen darauf verwiesen, dass es sich bei der EZB-Entscheidung um einen absoluten Ausnahmefall gehandelt habe und dass in aller Regel europäisches Recht gelte.

Ein grundlegender Unterschied der Gerichtsentscheidungen in Polen und Deutschland liegt nach Worten von Gerichtspräsident Stephan Harbarth in der Intention. «Das Bundesverfassungsgericht hat vom EuGH im Verhältnis zur EZB nicht weniger Rechtskontrolle eingefordert, sondern mehr Rechtskontrolle», sagte er jüngst den «Badischen Neuesten Nachrichten». Instrumentalisierungen des Bundesverfassungsgerichts für Projekte, die auf den Abbau von Rechtsstaatlichkeit zielen, seien «schamlos».

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki versuchte zuletzt am Dienstag bei einer Rede im Europaparlament, die umstrittene Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts mit Verweisen auf Urteile in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden zu rechtfertigen. Er verwies dazu darauf, dass auch die obersten Gerichte in anderen EU-Ländern keinen absoluten Vorrang von EU-Recht sehen und warf dem EuGH Kompetenzüberschreitungen vor.

In Brüssel wird das polnische Urteil vor allem deswegen als höchst problematisch angesehen, weil es der polnischen Regierung einen Vorwand geben könnte, ihr unliebsame Urteile des EuGH zu ignorieren. Warschau hat schon angekündigt keine weitere Einmischung bei Justizreformen zu akzeptieren. Teile von dieser gefährden aus Sicht von Kritikern die Unabhängigkeit der polnischen Justiz und verstoßen damit gegen EU-Recht.

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Ingo Kerp 20.10.21 14:00
Polen ist ein Beispiel für den desolaten Zustand der EU. Nationalistisch eingestellte Staaten koennten dem Beispiel folgen und auch EU Recht anzweifeln. Selbst in Frankreich, dessen Präsident EU freundlich gesinnt ist, gibt es inzwischen einen Widerstand gegen die EU. Sollte sich diese nicht langsam reformieren und eine neue Verfassung bekommen, broeckelt der Zusammenhalt weiter.