30 Jahre deutsche Einheit

Erfolgsgeschichte mit Schönheitsfehlern

Foto: Pixabay
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BERLIN: Seit 30 Jahren leben die Deutschen wieder in einem Staat. Vom Ziel der «Inneren Einheit» war seit 1990 viel die Rede. Wie weit sie erreicht wurde, daran scheiden sich die Geister.

Wer in den achtziger Jahren in Deutschland das Wort «Wiedervereinigung» in den Mund nahm, lief schnell Gefahr, für ewiggestrig oder gar verrückt erklärt zu werden. Zu unwahrscheinlich schien es, dass sich an der Teilung des Landes als Folge des Zweiten Weltkriegs etwas ändern könnte. In Politik und Medien hatten sich viele mit dem Status quo abgefunden.

Doch dann ging plötzlich alles sehr schnell: Im Herbst 1989 ließen die friedlichen Proteste in der DDR und die Massenflucht ihrer Bürger die Berliner Mauer einstürzen, und im folgenden Frühjahr wurde bei den ersten freien Wahlen in Ostdeutschland die kommunistische Führung abgewählt. Die neue Regierung in Ost-Berlin handelte mit der westdeutschen Regierung in Bonn den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland aus, der am 3. Oktober 1990 in Kraft trat.

Jetzt feiert Deutschland 30 Jahre Wiedervereinigung. Ein Bürgerfest in Potsdam wurde wegen der Corona-Pandemie abgesagt, stattdessen präsentieren sich in der brandenburgischen Landeshauptstadt die 16 deutschen Bundesländer mit einer Ausstellung unter freiem Himmel. Zugleich wird in Deutschland Bilanz gezogen, wie weit man auf dem Weg zur «Inneren Einheit» des Landes und der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West vorangekommen ist.

«Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört», hatte der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, der zur Zeit des Mauerbaus 1961 Berliner Bürgermeister war, gleich nach dem Mauerfall gesagt. Bundeskanzler Helmut Kohl versprach 1990, es werde in gemeinsamer Anstrengung gelingen, die neuen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen «schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln.»

Warnungen der Ökonomen wurden überhört

Doch die blühenden Landschaften ließen auf sich warten, und das Zusammenwachsen war schwieriger als gedacht. Für abertausende DDR-Bürger bedeutete die Einheit zunächst einmal den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Denn mit der Einführung der D-Mark in der DDR und der Umstellung von Löhnen und Gehältern von Ost- auf Westmark im Verhältnis eins zu eins zum 1. Juli 1990 verlor die ostdeutsche Industrie mit einem Schlag ihre Wettbewerbsfähigkeit.

Vergeblich hatten Ökonomen wie der damalige Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl gewarnt, dass die DDR-Wirtschaft den Aufwertungsschock nicht überleben würde. Die Politik wollte es nicht hören. Die früheren DDR-Kombinate konnten in der Marktwirtschaft nicht kostendeckend arbeiten, zumal sie ihre traditionellen Absatzmärkte in der Ex-Sowjetunion und anderen Ostblockstaaten verloren.

Zum Buhmann im Osten wurde die Treuhandanstalt, deren Aufgabe es war, die DDR-Staatsbetriebe schnell zu privatisieren. Ihr wird vorgeworfen, nicht nur marode, sondern auch überlebensfähige Betriebe liquidiert oder billig an westdeutsche Konkurrenten verscherbelt zu haben. Bis heute wird in Deutschland diskutiert, ob es zur Währungsunion überhaupt eine Alternative gegeben hätte, zumal die Einführung der D-Mark im Osten ja populär war. Ohne Zweifel wurden die Schwierigkeiten aber von der Regierung Kohl unterschätzt.

Weit mehr als eine Billion Euro sind in Deutschland seit 1990 von West nach Ost geflossen, um den östlichen Lebensstandard zu heben. Neue Straßen und Leitungsnetze wurden gebaut, die Städte wunderschön saniert, die Infrastruktur ist heute vielfach moderner als im Westen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf Ostdeutschlands (ohne Berlin) stieg laut jüngstem Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit von 37 Prozent des gesamtdeutschen Niveaus 1990 auf 73 Prozent 2019. Es nähert sich damit dem EU-Durchschnitt.

Blühende Inseln statt blühender Landschaften

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, ein deutscher Thinktank, bezeichnete in einer jüngsten Studie die Wiedervereinigung als eine «Erfolgsgeschichte». Gerade im letzten Jahrzehnt habe sich vieles weiter zum Positiven entwickelt, etwa beim Rückgang der Arbeitslosigkeit und dem Zuwachs der Beschäftigung, schreibt das Institut. Allerdings seien nicht überall «blühende Landschaften» entstanden, sondern mancherorts eher «blühende urbane Inseln.»

Zur Bilanz von 30 Jahren Einheit zählt auch die für den Osten ungünstige demografische Entwicklung. Die Einwohnerzahl in den ostdeutschen Bundesländern ist durch Abwanderung und Geburtendefizit seit 1990 um 2,2 Millionen gesunken. Im Westen legte sie um 5,4 Millionen zu. Lebte zur Wiedervereinigung ein Fünftel der Deutschen im Osten, ist es heute nur noch ein Sechstel.

Die wirtschaftliche Strukturschwäche des Ostens spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass kein einziger der 30 im Deutschen Aktienindex DAX vertretenen Konzerne und auch sonst kaum ein Großunternehmen dort seinen Sitz hat. In den Führungsposten von Hochschulen und Verwaltung dominieren die «Wessis». Jüngst teilte das Innenministerium auf eine parlamentarische Anfrage der Linken hin mit, dass von den 133 Abteilungsleitern in den deutschen Bundesministerien nur 4 im Osten geboren wurden.

Ostdeutsche fühlen sich als Bürger zweiter Klasse

In einer Meinungsumfrage der Bertelsmann-Stiftung stimmten jüngst 59 Prozent der Befragten im Osten der Aussage zu, dass Ostdeutsche in Deutschland wie Bürger zweiter Klasse behandelt würden. 71 Prozent befanden, dass Ostdeutsche mehr Anerkennung dafür verdienten, dass die Wende 1989 friedlich verlief. Bei Wahlen zeigt sich im Osten ein hohes Potenzial an Protestwählern. Die rechtspopulistische AfD und die aus der DDR-Staatspartei SED hervorgegangene Partei Die Linke holen dort weit mehr Stimmen als im Westen.

«Ich hatte gedacht, dass die mentale Einigung leichter gehen würde als die der Infrastruktur. Letztendlich ist es umgekehrt gekommen. (...) Die wechselseitige Anerkennung dessen, was das Leben ausgemacht hat, funktioniert nur bedingt», sagte der letzte DDR-Ministerpräsident, Lothar de Maizière (CDU), in einem Interview der «Berliner Zeitung». Zusammen mit Kohl, Brandt, Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Außenminister Hans-Dietrich Genscher stand er in der Nacht des 3. Oktobers 1990 auf den Stufen des Reichstags von Berlin. Von den fünf Herren auf dem historischen Foto ist de Maizière (80) der einzige, der noch lebt.

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, erinnert an die «harten Brüche», die die Wiedervereinigung für viele Bürger in den neuen Ländern angesichts der oft extremen Veränderungen ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse bedeutete. «Die Ostdeutschen sind ja in einer Weise durchgerüttelt worden, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr geschehen ist», sagt dazu de Maizière. Während sie mit all ihrem Tun auf den Prüfstand gestellt worden seien, hätten die Westdeutschen sagen können, «wir leben so weiter wie bisher».

Wanderwitz zieht aber eine überwiegend positive Bilanz. «Wir haben 30 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit, wir leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand in einem geeinten Europa. Das Glücksgefühl von 1990 müssen wir zurückholen», sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Bei der vollen wirtschaftlichen Angleichung gibt er sich skeptisch. «Ich bin da frei von Illusionen. Es wird immer gewisse Unterschiede geben. Die gibt es auch in den alten Bundesländern», sagt Wanderwitz.

Vom Mauerfall bis zur deutschen Einheit

Am 3. Oktober 2020 feiert Deutschland den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Stationen der dramatischen Entwicklung vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung:

9. November 1989: Günter Schabowski, Mitglied des SED-Politbüros, kündigt auf einer Pressekonferenz eher beiläufig an, die DDR werde umgehend die Grenzen öffnen. Nach 28 Jahren fällt die Mauer.

28. November: Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) legt im Bundestag in Bonn einen Zehn-Punkte-Plan für die Wiedervereinigung vor. Dabei geht er noch davon aus, dass der Prozess fünf bis zehn Jahre beanspruchen würde.

10. Februar 1990: Kohl reist zum sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow nach Moskau. In Ottawa beschließen die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die Aufnahme von Zwei-plus-Vier-Verhandlungen mit beiden deutschen Staaten.

18. März: Erste freie Wahlen in der DDR. Klarer Sieger ist die konservative Allianz für Deutschland mit der CDU an der Spitze.

12. April: Die Volkskammer wählt Lothar de Maizière (CDU) zum Ministerpräsidenten. Er bildet eine große Koalition und will die Einheit so schnell wie möglich.

27. April: Unter Führung von DDR-Staatssekretär Günther Krause und Bundesbankdirektor Hans Tietmeyer beginnen die offiziellen Gespräche zur Wirtschafts- und Währungsunion.

2. Mai: Bonn und Ost-Berlin einigen sich nach heftigen Debatten und Demonstrationen in der DDR auf eine Währungsumstellung von Löhnen, Gehältern und Renten im Verhältnis eins zu eins.

5. Mai: Auftakt der Zwei-plus-Vier-Gespräche. Die USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich verhandeln mit den beiden deutschen Staaten über außen- und sicherheitspolitische Aspekte.

18. Mai: BRD und DDR unterzeichnen den Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion.

1. Juli: Die Wirtschafts- und Währungsunion tritt in Kraft. Die DDR stellt auf D-Mark um. Die Personenkontrollen an der innerdeutschen Grenze fallen weg.

6. Juli: In Ost-Berlin beginnen die Beratungen über den zweiten Staatsvertrag, den Einigungsvertrag.

16. Juli: Kohl und Gorbatschow verkünden im Kaukasus den Durchbruch bei der Bündnisfrage. Deutschland bleibt nach der Vereinigung Nato-Mitglied. Sowjetische Truppen sollen aus Ostdeutschland abgezogen werden.

23. August: Die Volkskammer beschließt den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober.

31. August: In Ost-Berlin wird der deutsch-deutsche Einigungsvertrag unterschrieben. Bundestag und Volkskammer billigen ihn am 20. September mit Zwei-Drittel-Mehrheiten.

12. September: Die USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich unterzeichnen in Moskau den «Vertrag über abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland». Kernpunkt: Deutschland erhält mit dem Tag der Vereinigung die volle Souveränität.

3. Oktober: Um 00.00 Uhr wird zu den Klängen des Deutschlandliedes vor dem Reichstagsgebäude in Berlin die schwarz-rot-goldene Flagge aufgezogen. Der Tag der Deutschen Einheit ist seitdem Feiertag.

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