Ölmacht Venezuela ohne Sprit

Foto: epa/Cristian Hernandez
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Caracas/Maicao (dpa) – Die Erklärung klingt etwas abenteuerlich. «Verzögerungen bei Schiffstransporten mit Treibstoff» führt der Vizepräsident des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA, Ysmel Serrano, als Grund für den dramatischen Benzinmangel an.

In Caracas und anderen Städten Venezuelas werden die Autoschlangen vor den Tankstellen, die noch Benzin haben, immer länger. «Ohne Nahrung, Medikamente, Wasser, Strom. Jetzt auch ohne Benzin, 29.000 Morde 2016», lautet die Bilanz von Oppositionsführer Henrique Capriles nach 18 Jahren Sozialismus.

Venezuela hat die größten Ölreserven der Welt. Aber mangels ausreichend funktionstüchtiger Raffinerien müssen für mehrere Milliarden Dollar jedes Jahr Unmengen an Benzin importiert werden. Wegen einer dramatischen Geldentwertung, es herrscht die höchste Inflation weltweit, sind die meist in Dollars zu zahlenden Importe kaum noch zu zahlen - daher auch der Medikamentenengpass. Präsident Nicolás Maduro hat nun sogar die UN um medizinische Hilfe gebeten.

Das Absurde an der an absurden Geschichten so reichen Krise in Venezuela: An der Grenze zu Kolumbien - aber auf der anderen Seite - sind Medikamente und Benzin aus Venezuela im Überfluss vorhanden.

Am besten beginnt man diese Geschichte mit Gardel, in seinem Wagen riecht es ziemlich streng nach Benzin. Eigentlich heißt Gardel anders, aber alle im kolumbianischen Riohacha nennen den Taxifahrer so. Weil sein Vater fast so schön Tangos singen konnte wie die Tango-Legende Carlos Gardel. Gardel Junior kann zwar nicht singen, aber recht rasant Auto fahren. 60 Liter geschmuggeltes Benzin schlummern im Kofferraum. An einer Polizeisperre gibt Gardel Vollgas, an einer Mautstation biegt er auf eine Sandpiste ab und umfährt sie.

Strafen für den Schmuggel sind hier zwar kaum zu befürchten, aber ein Einkassieren der drei Kanister mit venezolanischem Benzin. Nirgendwo auf der Welt ist Benzin so billig wie im Nachbarland Venezuela, hoch subventioniert, eine Tankfüllung kostet drüben oft keine 50 Cent. Doch jetzt fehlt Benzin. Nach Schätzungen wandern jeden Tag dagegen Hunderttausende Liter Benzin auf die andere Seite in Kolumbien.

In der dortigen Grenzstadt Maicao wird der florierende Handel mit Schmuggel-Benzin toleriert, an den Ausfallstraßen in Richtung der Großstadt Riohacha gibt es hingegen Polizeisperren mit Stichproben.

In Maicao gibt es reihenweise aufgegebene Tankstellen, die vor sich hinrosten. Und umso mehr «mobile Tankstellen», an der Straße stehen Benzinverkäufer, die konkurrieren, wer die schönste Wand aus gelben 20-Liter-Kanistern hat. Autos halten an - mit Trichtern wird frisch aus Venezuela geschmuggeltes Benzin in die Autotanks eingefüllt.

Taxifahrer wie Gardel sind «Stammgast». Der Preis für 20 Liter: 13.000 kolumbianische Pesos (4,10 Euro), an der Tankstelle wären es mit 35.000 Pesos (11,20 Euro) fast drei Mal so viel. «90 Prozent des Handels ist in Händen der Wayuu», erzählt Luis Puschaina. Seit drei Monaten verkauft der 19-Jährige vom Stamm der Wayuu-Indigenas hier an der Straße Benzin. «Hier gibt’s fast keine Tankstellen mehr», lacht Puschaina. «In Venezuela ist das Benzin halt billiger als Wasser».

Wie kommt das Benzin hier hin? Über die Trochas, sagt er. Will heißen über Schleichwege, die grüne Grenze. Auch über Flüsse werden viele Kanister transportiert. Das Department La Guajira ist von Armut und Arbeitslosigkeit geprägt, lange Zeit war es Guerillagebiet und der Staat kaum präsent. Es gibt neben Maicao zum Beispiel noch das Dorf Cuestecitas, wo fast alle Menschen heute vom Benzinhandel leben.

Da die Wayuu auf beiden Seiten der Grenze beheimatet sind, werden oft von venezolanischen Angehörigen mit Pick-Ups rund 10.000 Liter pro Fuhre zu einem Übergabepunkt auf der kolumbianischen Seite gebracht.

Die Gewinnmargen sind für alle gut. 200 Liter Benzin kosten für die Schmuggler in Kolumbien rund 35 Euro - im Verkauf bekommen sie rund 41 Euro. Wenn weiter weg von der Grenze verkauft wird, gibt es bis zu 60 Euro. Etwa in Cuestecitas - Risikoaufschlag wegen der Kontrollen.

Ein Wayuu-Schmuggler, der anonym bleiben will, berichtet, dass ab und an Grenzpolizisten bestochen werden müssen, aber erst zwei Mal sei seine Fracht konfisziert worden. Strafanzeige? «Noch nie.» Da die Wayuu alle Schleichwege durch ihre Gebiete jenseits der Asphaltstraßen kennen, ist das Entdeckungsrisiko gering, zumal ihre Territorien als autonom gelten und der Staat sich daher raushält.

Was noch auffällt neben dem Benzin-Ausschank: Viele Marktstände in Maicao mit Medikamenten aus dem vor dem Ruin stehenden Venezuela. Dort ist die Kindersterblichkeit extrem gestiegen, weil Medikamente fehlen, einige Krankenhäuser haben gerade einmal noch fünf Prozent der notwendigen Medizin. Deshhalb müssen Venezolaner in ihrer Not nach Kolumbien reisen, um dort venezolanische Medikamente zu kaufen.

«Mi amor», sagt Angie Astaizo auf die Frage, warum denn hier die Epilepsie- und Diabetesmedikamente landen, die drüben fehlen. «Die bringen uns andere Venezolaner, die sie irgendwo her haben, gerade nicht brauchen», sagt Astaizo. Mit dem Geld wiederum würden sie Reis, Öl und Milch kaufen. Die 22-Jährige steht als pars pro toto - die Kolumbianer profitieren von der Krise und dem Billig-Benzin. Die venezolanischen Zustände sind gerade ziemlich gut fürs Geschäft.

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