Im Namen von Hatun Sürücü

Foto: dpa/Rainer Jensen
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ISTANBUL (dpa) - Die Schüsse kamen unerwartet. Die 23-jährige Hatun Sürücü hielt einen Kaffeebecher und die brennende Zigarette in der Hand, als sie von ihrem jüngsten Bruder Ayhan an einer Berliner Bushaltestelle getötet wurde. Mehr als zwölf Jahre ist das her. Der Täter gab an, seine Schwester wegen ihres westlichen Lebensstils getötet zu haben. Er wurde zu neueinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt, saß die Haft ab und wurde dann in die Türkei abgeschoben.

Dass Ayhan Sürücü alleine gehandelt hat, glaubt die Staatsanwaltschaft des Istanbuler Strafgerichts in Kartal nicht. Seine älteren Brüder, heute 36 und 38 Jahre alt, sollen den Jüngsten mit dem Mord beauftragt haben, um die Familienehre wiederherzustellen. Seit mehr als einem Jahr stehen sie deshalb in Istanbul vor Gericht. Ihnen wird Beihilfe zur vorsätzlichen Tötung ihrer kleinen Schwester vorgeworfen. Der Ältere der beiden soll zudem die Tatwaffe besorgt haben. Am Dienstag (30.5.) wird ein Urteil erwartet. Den Brüdern droht lebenslange Haft.

Nach Einschätzung der Anwältin und Frauenrechtlerin Rukiye Leyla Süren, die als Beobachterin am Prozess teilnimmt, steht der Fall stellvertretend für die Rechte aller getöteten Frauen. Sie hofft, dass es zu einem Urteil kommt, das «abschreckende Wirkung» habe.

Hatun Sürücü war mit 15 Jahren in der Türkei mit ihrem Cousin zwangsverheiratet worden. Sie kehrte ohne ihren Mann und schwanger nach Deutschland zurück. Mit ihrer streng religiösen Familie gab es bald Streit, wie aus den Gerichtsunterlagen hervorgeht.

Hatun Sürücü zog ihren Sohn allein groß, machte eine Lehre zur Elektroinstallateurin und führte ein selbstständiges Leben. Zum Zeitpunkt ihres Todes im Februar 2005 stand sie kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung.

Der Täter sagte an einem Verhandlungstag in Istanbul als Zeuge aus, seine Brüder hätten mit dem Mord nichts zu tun. Auch an dem Lebensstil seiner Schwester habe er sich nicht gestört und widersprach damit seiner früheren Aussage. Die Ehefrau des jüngeren Angeklagten, Geschwister und ein Arbeitskollege wurden im Prozess vernommen, Fotos herumgereicht - die Familie versuchte so vor Gericht deutlich zu machen, dass sie modern sei und nichts gegen einen westlichen Lebensstil habe.

Die Staatsanwaltschaft sieht das anders und warf den Angeklagten in ihrem Abschlussplädoyer Ende März vor, sich in der Gesellschaft für den Lebensstil ihrer Schwester geschämt zu haben. Gemeinsam hätten sie beschlossen, dass der jüngste Bruder die «Ehre säubern» solle. Für den Staatsanwalt steht fest, dass die beiden Angeklagten «mit dem Beweggrund des Brauches» Beihilfe zur vorsätzlichen Tötung ihrer Schwester geleistet haben. Sie hätten den Mord gemeinsam geplant.

Der ältere Angeklagte habe die Tatwaffe besorgt und Ayhan gegeben. Der jüngere Angeklagte habe mit Ayhan am 7. Februar 2005 noch zu Abend gegessen und ihn dann um 20.15 Uhr zur Wohnung von Hatun Sürücü in Berlin-Tempelhof begleitet. Ayhan sei in die Wohnung gegangen, der Bruder habe draußen gewartet und beobachtet, wie die beiden nach einiger Zeit herauskamen. Sie mit der Kaffeetasse in der Hand. Ayhan habe an der Bushaltestelle «plötzlich» seine Waffe gezogen und Hatun Sürücü dreimal in den Kopf geschossen, so die Darstellung der Staatsanwaltschaft.

Hauptbelastungszeugin der Anklage ist die Ex-Freundin des Täters, die im Berliner Prozess ausgesagt hatte. Sie konnte in Istanbul jedoch nicht noch einmal befragt werden. Zwar wollte das Gericht eine Anhörung, den Behörden gelang es jedoch nicht, ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen.

Nach Angaben von Frauenrechtlerin Süren bezieht sich der Staatsanwalt auf eine Besonderheit im türkischen Strafgesetz, dem «Brauch» als Beweggrund. Dieser werde als erschwerter Umstand angesehen. Die Einführung dieses Details im Gesetz im Jahr 2005 sei das Ergebnis eines «sehr langen Kampfes der Frauenrechtlerinnen» in der Türkei gewesen. Morde an Frauen seien in der Türkei nach wie vor ein sehr großes Problem, sagt Süren, die auch für die Plattform «Wir werden Frauenmorde stoppen» tätig ist. Fälle in denen die Familie den Mord gemeinsam beschließt, seien jedoch nicht mehr so häufig. Öfter handele es sich nun um Taten Einzelner.

Am Istanbuler Prozess kritisiert Süren vor allem, dass die Zeugen der Anklage in Istanbul nicht noch einmal vernommen werden konnten, ihre Frauenrechtsplattform nicht zur Nebenklage zugelassen wurde und damit «niemand im Namen von Hatun Sürücü intervenieren» konnte. Sollte es Freispruch für die Angeklagten geben, werde sie Revision einlegen.

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