Christen in Indien fühlen sich schikaniert

Foto: epa/Divyakant Solanki
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NEU DELHI (dpa) - Am 23. Mai trafen sich 60 Jugendliche am Bahnhof des zentralindischen Ratlam. Sie wollten mit einer Gruppe von Betreuern zu einem Bibel-Camp im rund 600 Kilometer entfernten Nagpur fahren. Doch daraus wurde nichts. Plötzlich tauchte die Polizei auf und nahm alle fest. Genauso erging es einer zweiten Gruppe mit elf Jugendlichen, die vom nahegelegenen Indore abfahren wollte. Der Verdacht: Entführung und Bekehrung.

Die Jugendlichen blieben drei Tage in Gewahrsam. Sieben der insgesamt zehn Betreuer kamen erst am vergangenen Mittwoch, nach mehr als drei Monaten, auf Kaution frei. Ihr Prozess steht noch bevor - ihnen drohen bis zu acht Jahre Haft.

Dabei hätten die Eltern aller Jugendlichen ausgesagt, dass sie ihre Kinder freiwillig zu dem Bibel-Camp geschickt hätten, sagt Tehmina Arora von ADF International. Die in Wien beheimatete Tochter der christlich-konservativen US-Organisation «Alliance Defending Freedom» hat den rechtlichen Beistand der Betreuer übernommen. «Diese falschen Anschuldigungen haben sie sehr verstört», erzählt Arora der Deutschen Presse-Agentur.

Der Tatvorwurf der Bekehrung bezieht sich auf das Religionsfreiheits-Gesetz des Bundesstaates Madhya Pradesh von 1968. Fünf andere Bundesstaaten haben auch solche Gesetze. In einem weiteren, Jharkhand, wurde erst im August eines verabschiedet; es muss noch von der Gouverneurin abgesegnet werden. Diese Anti-Bekehrungs-Gesetze, wie sie landläufig genannt werden, verbieten zwar nur Zwangsbekehrungen, werden Kritikern zufolge aber genutzt, um religiöse Minderheiten zu schikanieren.

Indiens rund 28 Millionen Christen machen etwa 2,3 Prozent der Bevölkerung aus. Sie sind nach den Hindus und Muslimen die drittgrößte Religionsgruppe - in vier nordöstlichen Bundesstaaten allerdings die größte.

Nach Ansicht von Joseph D'souza, Bischof der evangelikalen Kirche «Good Shepherd Church» und Chef des Christen-Verbands «All India Christian Council», zielen die Anti-Bekehrungs-Gesetze eindeutig auf Christen ab. Mancherorts würden Menschen das Gesetz auch selbst in die Hand nehmen. «In einigen Gegenden des Landes scheinen die Selbstjustiz-Gruppen freie Hand zu haben», sagt D'souza.

Auch Angriffe von selbst ernannten Kuhbeschützern auf Muslime, die angeblich Rinder geschlachtet oder deren Fleisch gegessen haben, nehmen seit einigen Jahren in Indien zu. Es hat aber ebenso immer wieder Gewalt gegen Christen wegen angeblicher Zwangsmissionierung gegeben.

Im Jahr 2008 töteten fanatische Hindu-Mobs im ostindischen Odisha (damals Orissa) Dutzende Christen. Neun Jahre zuvor hatten Angehörige der militanten Hindu-Gruppe Bajrang Dal im selben Bundesstaat den australischen Missionar Graham Staines und dessen zwei kleinen Söhne bei lebendigem Leib verbrannt. Staines hatte sich jahrzehntelang in Indien um Leprakranke gekümmert.

Das hatte auch Mutter Teresa getan, deren Tod sich am Dienstag zum 20. Mal jährt. Der «Engel der Armen» bekam 1979 den Friedensnobelpreis und wurde vor einem Jahr heiliggesprochen. Für viele Menschen war die Ordensschwester der Inbegriff des Guten Samariters, für radikale Hindus war sie aber vor allem eine Missionarin. Der Chef der einflussreichen Organisation RSS, Mohan Bhagwat, sagte vor zwei Jahren, Teresa habe den Armen nur gedient, um diese zum Christentum zu bekehren.

Die RSS führt eine Gruppe hindu-nationalistischer Gruppen an, zu der auch die Bajrang Dal gehören. Sie hat außerdem enge Verbindungen zur hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP von Premierminister Narendra Modi.

«Meine große Sorge ist, dass diese Mischung aus Religion und Politik Indien langfristig schaden wird», sagt D'souza von der «Good Shepherd Church». Neben seiner Arbeit im Christen-Verband setzt er sich auch für Dalits ein - die Angehörigen der untersten Stufe des hinduistischen Kastensystems, die früher «Unberührbare» genannt wurden.

Viele Dalits sind zum Christentum übergetreten, um ihrer Diskriminierung im Kastensystem zu entkommen - wenngleich auch in einigen christlichen Gemeinden eine Art Kastensystem herrscht. Auch zahlreiche der Adivasi genannten Ureinwohner Indiens konvertierten in den vergangenen paar Jahrzehnten. Viele christliche Hilfsorganisationen engagieren sich für die verarmte Stammesbevölkerung. Häufig sind es Dalits und die Stammesbevölkerung, die die Gewalt zu spüren bekommen.

«Es gibt eine irrationale Angst, dass Indien zerfallen könnte, wenn bestimmte Menschen zum Christentum übertreten», sagt D'souza. «Jeder Versuch, das Land religiös zu homogenisieren, wird nur das Gegenteil erreichen und uns spalten.»

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