Prozess um Nizza-Anschlag startet - «Wir vergessen nicht»

Ermittler arbeiten am Tatort an der Promenade des Anglais, nachdem der Attentäter beim Anschlag am Nationalfeiertag mit einem LKW in eine Menschenmenge gerast war. Foto: Alliance/dpa
Ermittler arbeiten am Tatort an der Promenade des Anglais, nachdem der Attentäter beim Anschlag am Nationalfeiertag mit einem LKW in eine Menschenmenge gerast war. Foto: Alliance/dpa

NIZZA/PARIS: Mit einem tonnenschweren Lkw raste ein Attentäter 2016 in eine ausgelassene Menge auf Nizzas Strandpromenade. 86 Menschen starben, darunter zwei Schülerinnen und eine Lehrerin aus Berlin. Nun beginnt in Paris der Prozess gegen acht mutmaßliche Unterstützer des Täters.

Wer über die Strandpromenade in Nizza schlendert, dem fällt seit Kurzem eine große, geschwungene Aluminium-Skulptur auf. Der «Engel der Bucht» heißt das Kunstwerk an der Côte d'Azur, in das 86 Namen eingraviert sind. Es sind die Opfer des verheerenden Terror-Anschlags vom 14. Juli 2016, als ein Attentäter am Abend des französischen Nationalfeiertags mit einem Laster in eine riesige Menschenmenge auf Nizzas Flaniermeile raste. Dabei starben auch zwei Schülerinnen und eine Lehrerin einer Berliner Schule. Über 200 Menschen wurden verletzt. Am Montag beginnt vor einem Spezialgericht in Paris der Prozess gegen sieben Männer und eine Frau, die den Täter unterstützt haben sollen.

Der 31 Jahre alte Mohamed Lahouaiej Bouhlel war damals noch vor Ort von Sicherheitskräften erschossen worden. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) reklamierte die Tat später für sich. Die Angeklagten sind im Alter zwischen 27 und 48 Jahren - drei von ihnen müssen sich wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verantworten. Gegen einen wird in Abwesenheit verhandelt, er soll sich nach Tunesien abgesetzt haben, dort aber in Haft sitzen. Den Angeklagten drohen Haftstrafen zwischen fünf Jahren und lebenslänglich. Der Anschlag in Nizza war der zweitschlimmste einer Serie islamistischer Attacken, die Frankreich vor einigen Jahren erschütterten.

Der Prozess wird im von Terror traumatisierten Frankreich schwer verheilte Wunden wieder aufreißen. Gerade erst hat das Land einen Mammutprozess bewältigt, der die Anschläge vom November 2015 in Paris mit 130 Toten aufgearbeitet hat. Für den Nizza-Prozess, der bis zum 16. Dezember laufen soll, wird der gleiche eigens hergerichtete große Verhandlungssaal im Pariser Justizpalast genutzt, in dem bereits der Prozess um die Anschläge in der Hauptstadt stattfand. Wie schon in diesem Prozess ist auch jetzt vorgesehen, den Aussagen der Opfer und Angehörigen breiten Raum zu geben, mehrere Wochen sind dafür eingeplant.

Zu den 865 Nebenklägern gehört Familie Borla, die bei dem Anschlag 2016 die damals 13-jährige Laura verlor. Mit ihren beiden Zwillingstöchtern waren die Eltern auf der Promenade unterwegs. Laura lief an der Hand ihrer Mutter, die sich mit einem Sprung auf den Strand vor dem heranrasenden Lkw rettete. Drei Tage lang suchte die Familie nach Laura - dann stand fest, sie ist tot. «Wir wollen zum Prozess gehen, um unsere Schwester und all die Opfer zu verteidigen, die zu Unrecht gestorben sind», erklärte die ältere Tochter Lucie dem Sender France Info. «Auch wenn der Hauptterrorist getötet wurde und keine Strafe bekommt, hoffen wir, dass die Komplizen eine Strafe bekommen.»

Dem sechs Jahre zurückliegenden, kaum bewältigten Horror erneut entgegenzublicken, ist schwierig. «Ich habe dieses Bild tief in mir vergraben, um zu versuchen, es zu kontrollieren, weil es sehr schwer ist», sagte Vater Jacques dem Sender. «Ich lasse es mir nicht anmerken, aber in Wirklichkeit bin ich zerstört.» Er stelle sich vor, seine Tochter sei noch da, aber «weit weg gezogen, um dort mit einem Freund zu leben». Zwillingsschwester Audrey will sich im Gericht gegenüber den Angeklagten stark zeigen: «Ihr habt mir meine Schwester genommen, aber ihr werdet mich nicht am Leben hindern, ihr werdet mich nicht dazu bringen, das Leben aufzugeben.»

Auch von Deutschland aus werden Betroffene auf den Prozess blicken. 28 Jugendliche des Abitur-Jahrgangs der Berliner Paula-Fürst-Schule waren damals auf einer Klassenfahrt an der Côte d'Azur und standen auf der Promenade des Anglais, als es zu dem Anschlag kam. Zwei Schülerinnen und eine Lehrerin wurden in den Tod gerissen, eine weitere Schülerin wurde verletzt. Ein Gedenkstein erinnert an der Schule an das fürchterliche Geschehen.

Die Côte d'Azur-Metropole Nizza und ihre Bewohner beschäftigt der Anschlag noch immer. Der Gerichtsprozess bringe «Wochen, die fürchterlich schmerzhaft werden für viele, aber hoffentlich auch befreiend», sagte Bürgermeister Christian Estrosi beim Gedenken im Juli. «Für uns, die Opfer, wird das Urteil dieses Prozesses nicht die Wunden unserer Herzen schließen.» Er sagte auch: «Wir vergessen nicht, und wir vergessen niemals nichts.» Zugleich unterstrich Estrosi die Stärke Nizzas als freie, gastfreundliche Stadt, die noch kein Gegner habe schlagen oder zerstören können. «Wir sind da, aufrecht, zusammen, und halten die Liebe für die Freiheit hoch und den strahlenden Triumph des Lebens.»

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