Raketeneinschlag war kein gezielter Angriff

​Polen und Nato

Der polnische Präsident Andrzej Duda spricht während einer Pressekonferenz. Foto: epa/Pawel Supernak
Der polnische Präsident Andrzej Duda spricht während einer Pressekonferenz. Foto: epa/Pawel Supernak

WARSCHAU/BRÜSSEL/NUSA DUA: In Polen schlägt nahe der Grenze zur Ukraine eine Rakete ein und tötet zwei Menschen. Nach ersten westlichen Angaben handelt es sich wahrscheinlich um eine ukrainische Flugabwehrrakete, die gegen russische Angriffe eingesetzt wurde.

Der Raketeneinschlag in Polens Grenzgebiet zur Ukraine war nach Angaben von Präsident Andrzej Duda und der Nato kein gezielter russischer Angriff. Es gebe keine Beweise dafür, dass die Rakete von Russland abgefeuert worden sei, sagte Duda am Mittwoch in Warschau. Es handele sich vielmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine ukrainische Flugabwehrrakete. Moskau hatte zuvor bestritten, Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen zu haben, und von einer gezielten Provokation gesprochen.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte in Brüssel, es gebe keine Hinweise darauf, dass der Raketeneinschlag ein vorsätzlicher Angriff gewesen sei. Nach vorläufigen Analysen sei der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden, die gegen russische Angriffe mit Marschflugkörpern eingesetzt worden sei. Es gebe keine Hinweise, dass Russland offensive militärische Aktionen gegen die Nato vorbereite.

Duda betonte: «Nichts, absolut nichts, deutet darauf hin, dass es sich um einen absichtlichen Angriff auf Polen handelte.» Er ergänzte: «Was passiert ist, nämlich dass eine Rakete auf unser Territorium fiel, war keine vorsätzliche Handlung. Es war keine gezielte Rakete, die auf Polen gerichtet war.» Nach bisherigen Erkenntnissen handele es sich bei der Flugabwehrrakete um eine S-300 aus russischer Produktion, die in den 70er Jahren hergestellt worden sei.

Nach Angaben der polnischen Regierung war die Rakete im ostpolnischen Dorf Przewodow sechs Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt eingeschlagen. Nach Feuerwehrangaben wurden dabei zwei Menschen auf einem landwirtschaftlichen Betrieb getötet. Polen versetzte daraufhin einen Teil seiner Streitkräfte in eine höhere Bereitschaft. Russland hatte in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine am Dienstag zahlreiche Raketen auf das Land abgefeuert.

US-Präsident Joe Biden hatte nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur bereits bei einem Krisentreffen mit Staats- und Regierungschefs von Nato- und G7-Staaten am Rande des G20-Gipfels auf Bali am Vormittag mitgeteilt, es gebe Hinweise darauf, dass es sich bei dem Geschoss um eine Flugabwehrrakete des Systems S-300 aus der Ukraine handele. Das Raketensystem S-300 ist sowjetischer Bauart und wesentlicher Bestandteil der ukrainischen Flugabwehr. Biden erklärte nach dem Treffen öffentlich, es gebe Informationen über die Flugbahn, die einem Abschuss aus Russland entgegenstünden.

Kanzler Scholz: Raketenvorfall in Polen sorgfältig aufklären

Scholz sagte nach dem G20-Gipfel: «Jede voreilige Festlegung über den Tatsachenverlauf vor seiner sorgfältigen Untersuchung verbietet sich bei einer so ernsten Angelegenheit.» Die Nachrichtendienste hätten sich ausgetauscht, die USA unterstützten die polnischen Ermittler.

Wie andere Staats- und Regierungschefs betonte Scholz, die Ursache des Einschlags dürfe nicht aus dem Blick geraten. Dieser wäre nicht passiert «ohne den russischen Krieg gegen die Ukraine, ohne die Raketen, die jetzt intensiv und in großem Ausmaß auf die ukrainische Infrastruktur verschossen werden». Der britische Premierminister Rishi Sunak sagte, die Ukraine setze Raketen ein, um sich gegen «eine illegale und barbarische Angriffsserie Russlands» zu verteidigen.

Polens Armee: Luftabwehr kann nicht ganzes Land schützen

Nach Darstellung des polnischen Generalstabs konnte der Einschlag von der Raketenabwehr nicht verhindern werden. Die Aufgabe der Systeme bestehe darin, kritische Infrastrukturen zu schützen. «Keine Armee verfügt über ein Luftabwehrsystem, das das gesamte Territorium eines Landes schützt», teilte die Armeeführung mit. Schweden kündigte an, es wolle der Ukraine mit einem neuen Unterstützungspaket einschließlich eines Luftverteidigungssystems unter die Arme greifen.

Moskau spricht von gezielter Provokation

Das Verteidigungsministerium in Moskau sprach von einer gezielten Provokation. Es seien keine Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen worden. Auch die in polnischen Medien verbreiteten Fotos angeblicher Trümmerteile hätten nichts mit russischen Waffensystemen zu tun. Russland hatte die Ukraine am Dienstag nach Kiewer Zählung mit mehr als 90 Raketen und Marschflugkörpern beschossen.

Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew warnte auf Twitter: «Die Geschichte mit den ukrainischen «Raketenschlägen» auf eine polnische Farm beweist nur eins: Der Westen erhöht durch seinen hybriden Krieg gegen Russland die Wahrscheinlichkeit für den Beginn des Dritten Weltkriegs.»

Ukraine dringt auf Flugverbotszone

Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow forderte nach dem Einschlag in Polen die Einrichtung einer Flugverbotszone. Dies sei erforderlich, um unkontrollierte Raketen abzuschießen und auch die EU- und Nato-Staaten zu schützen. «Das ist die Realität, vor der wir gewarnt haben», fügte Resnikow hinzu. Die Ukraine hat wegen russischer Luftangriffe vom Westen schon mehrfach eine solche Flugverbotszone verlangt.

Durch die gezielten russischen Angriffe auf die Energieversorgung fiel nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj zeitweise für zehn Millionen Menschen in der Ukraine der Strom aus. Für acht Millionen Menschen habe die Versorgung später wieder hergestellt werden können. Der Mittwoch ist für die Ukraine der 266. Tag im Abwehrkampf gegen die russische Invasion.


Welche Rakete kam herunter? Spuren führen zur S-300

WARSCHAU/KIEW/MOSKAU: Die im polnischen Grenzgebiet zur Ukraine eingeschlagene Rakete gehört nach Angaben der polnischen Regierung zum Flugabwehrsystem des Typs S-300. Am Ort der Explosion seien Trümmer eines solchen Flugabwehrgeschosses gefunden worden, erklärte Polens Justizminister Zbigniew Ziobro am Mittwoch.

Die S-300 ist ein mobiles sowjetisches Flugabwehrsystem, entwickelt vom Elektronik- und Maschinenbauer Almas. Die Raketen dazu stammen vom Konstruktionsbüro «Fackel». Beide Unternehmen sind Teil des heutigen russischen Rüstungskonzerns Almas-Antej. Seit 1979 sind die S-300 im Dienst. In Russland gibt es inzwischen das Nachfolgemodell S-400, das als eines der modernsten Flugabwehrsysteme weltweit gilt. Im Frühjahr hat Almas-Antej sogar die Serienproduktion der S-500 angekündigt, die noch leistungsfähiger sein soll. Dennoch werden die S-300 bis heute genutzt, sowohl vom russischen als auch vom ukrainischen Militär.

Eingesetzt werden sie normalerweise an der Front und im Hinterland - zum Schutz eigener Einheiten oder von Industrie- und anderen strategisch wichtigen Objekten vor Luftangriffen. Sie können dabei mehrere Luftziele - seien es Raketen oder Flugzeuge - bekämpfen und sind dabei auch bei der Flughöhe der abzufangenden Objekte flexibel einsetzbar. Ihre Reichweite liegt abhängig von den genutzten Raketen bei bis zu 200 Kilometern.

Im Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland die Raketen des S-300-Systems nicht nur gegen Ziele in der Luft, sondern vielfach auch zum Beschuss ukrainischer Städte benutzt. Experten erklären dies damit, dass Moskau in dem für einige Tage konzipierten, aber seit Monaten andauernden Krieg inzwischen Defizite bei zahlreichen anderen Raketentypen wie der «Iskander» verspürt.

Am Dienstag allerdings, als Russland seine bislang schwersten Luftangriffe auf den Nachbarn startete, sollen vor allem moderne Lenkwaffen des Typs «Kalibr» von Schiffen aus dem Schwarzen Meer und Interkontinentalraketen vom Typ «Awangard» aus dem Kaspischen Meer abgeschossen worden sein. Aus Belarus, der einzigen Region, von wo aus auch S-300-Raketen polnisches Gebiet hätten erreichen können, wurden keine Abschüsse gemeldet.

Der Vorfall wirft einmal mehr die Frage nach einem verlässlichen Flugabwehrsystem für die Ukraine auf. Diese war nicht in der Lage, den massiven russischen Angriff zu entschärfen, der erneut in großen Teilen des Landes die Stromversorgung lahmlegte. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert seit langem Unterstützung des Westens gerade beim Thema Luftabwehr. Deutschland hat der Ukraine Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard sowie bislang ein Exemplar des hochmodernen Systems Iris-T geliefert.

Die Nato selbst schützt ihren Luftraum vor allem mit Patriot-Raketen. Die können Flugzeuge, ballistische Raketen und Marschflugkörper bis zu einer Höhe von 30 Kilometern und einer Entfernung von maximal 1000 Kilometern abschießen. Allerdings sind auch hier die Kapazitäten begrenzt. Gerade osteuropäische Staatschefs wie Litauens Präsident Gitanas Nauseda fordern daher, mehr solcher Systeme sowohl an der Grenze zur Ukraine als auch an der Grenze zu Russland aufzustellen.

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