AMSTERDAM: Ende einer Ära: Gut 13 Jahre war der Rechtsliberale Mark Rutte Premier. Nun tritt er nicht mehr an. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen zeichnet sich ab. Der Rechtspopulist Wilders wittert erstmals Chancen.
Das «torentje» in Den Haag ist die berühmteste Adresse der Niederlande, der Amtssitz des Ministerpräsidenten. Das mittelalterliche Türmchen mit Aussicht auf den Hofteich ist seit mehr als 13 Jahren das Reich von Mark Rutte. Doch nun wird sein Nachfolger gesucht. Am Mittwoch wählen die Niederländer ein neues Parlament und stellen damit die Weichen für eine neue Ära - ohne Rutte. Nach den jüngsten Umfragen wird es spannend. Drei Parteien haben Aussicht auf den Wahlsieg und könnten den Premier stellen. Zum ersten Mal gehört dazu auch der Rechtspopulist Geert Wilders.
Im Endspurt des Wahlkampfes ist seine Partei für die Freiheit (PVV) in den Umfragen nach vorne geschnellt. Doch ein Premier Wilders? Daran glaubt keiner so recht. Denn wer würde mit ihm regieren wollen? Favoritin auf den Sieg ist denn auch Dilan Yesilgöz von der rechtsliberalen Regierungspartei VVD. Aber auch das rot-grüne Bündnis mit dem früheren EU-Kommissar Frans Timmermans ist in den Umfragen nach vorne geprescht.
Die Wahl war notwendig geworden, weil Ruttes Mitte-Rechts-Koalition im Sommer nach nur knapp 18 Monaten wegen Streits über die Migrationspolitik geplatzt war. Es war die vierte Regierung Rutte, und der 56-Jährige gab kurz darauf seinen Abschied aus der nationalen Politik bekannt. Viele machten es ihm nach, fast alle Parteien treten nun mit neuen Spitzenkandidaten an.
Einer von ihnen beherrschte den Wahlkampf und wird eine Schlüsselrolle bei der Entscheidung bekommen, wer Premier der rund 18 Millionen Niederländer werden wird: Pieter Omtzigt. Der 49-Jährige ist seit gut 20 Jahren Abgeordneter in der Zweiten Kammer des Parlaments - bis 2021 für die Christdemokraten. Erst im August gründete er seine eigene konservative Partei: NSC - Neuer Sozialer Vertrag. Und damit erzielte er schnell Spitzenwerte in den Umfragen.
«Omtzigt ist ein Phänomen», sagt Sheila Sitalsing, politische Kommentatorin der Zeitung «De Volkskrant». «Er ist langweilig, farblos, eine Art Anti-Held.» Er will, dass das Land anders und besser geführt wird. Sein Hauptthema ist so sexy wie ein Heißwasserboiler: Erneuerung der Verwaltung.
Das trifft aber den Nerv der Wähler, auch wenn keiner genau weiß, was eigentlich anders werden soll. «Es herrscht große Unzufriedenheit», sagt Peter Kanne, Meinungsforscher beim Institut I&O in Amsterdam. «Viele finden, dass das Land nicht gut funktioniert, dass der Staat nicht mehr liefert: Bei Polizei, Schulen, Gesundheitssystem.» Hinzu kommen große Affären in den vergangenen Jahren.
Symptomatisch für das Versagen des Staates ist die Affäre um Kinderbeihilfen. Schätzungsweise 25.000 Eltern mussten wegen vermeintlichen Betruges Zehntausende Euros bezahlen, nur weil sie kleine Formfehler begangen hatten. Die Folgen für die Familien waren katastrophal. 2021 trat die dritte Rutte-Regierung deswegen zurück.
Einer der Politiker, die sich seit Jahren hartnäckig für die Opfer einsetzen, ist Omtzigt. Und das verschafft ihm Glaubwürdigkeit, sagt die Publizistin Sitalsing. «Die Wähler vertrauen ihm, sehen in ihm eine Art Erlöser.» Manche nennen ihn schon «Heiliger Pieter».
Doch im Wahlkampf-Endspurt hat auch er an Glanz verloren. Und das liegt daran, dass er sich nicht klar ausspricht, ob er Premier werden und mit wem er regieren will - links oder rechts. Und diese Wahl ist mehr denn je eine Richtungswahl. «Bürger wählen strategisch», sagt Wahlforscher Kanne. Sie bewegen sich nun entweder nach links zum rot-grünen Bündnis, um eine Koalition mit dem Rechtspopulisten Wilders zu verhindern. Oder sie geben ihre Stimme der PVV, weil sie einen linken Premier Timmermans nicht wollen.
Davon könnte die rechtsliberale VVD profitieren. Als erste Frau könnte die jetzige Justizministerin Yesilgöz (46) ins «torentje» einziehen. Dilan, wie sie sich gerne vorstellt, balanciert gekonnt auf schwindelerregend hohen Absätzen oder zeigt sich in sozialen Medien kämpferisch im Boxring des Fitness-Studios. «Pitbull auf Hacken», wird sie in Medien genannt. Das scheint ihr zu gefallen. Mit strahlendem Lächeln und gekonnt platzierten Einzeilern lieferte sie einen perfekten Wahlkampf und könnte Nachfolgerin ihres Parteifreundes Rutte werden.
Auch das ist für viele Beobachter ein Rätsel. Warum muss die regierenden Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) keine Abstrafung durch die Wähler befürchten? Dabei wird doch gerade diese Partei für Skandale und Armut, Wohnungsnot sowie Probleme im Gesundheitssystem verantwortlich gemacht. Viele sind froh, dass Rutte weggeht, der Mann mit dem großen Talent, Probleme einfach wegzulachen. «Vielen VVD-Wählern geht es aber wirtschaftlich gut», sagt Wahlforscher Kanne, «die wollen gar keine große Veränderung.»
Yesilgöz profiliert sich mit einem stramm rechten Kurs. Die Migration ist ihr großes Thema, und die will sie stark eindämmen. Das ist bemerkenswert für jemanden, der als Kind mit den Eltern aus der Türkei in die Niederlande flüchtete.
Der VVD gelang es, Migration zu einem Topthema dieser Wahl zu machen, und das verdrängte den Klimaschutz in den Hintergrund. Darunter litt vor allem das Bündnis von Sozialdemokraten und Grünen. Sie hoffen nach 13 Jahren Rutte auf einen Machtwechsel und treten erstmals gemeinsam an. Spitzenkandidat Timmermans (62) gab sein Amt als EU-Klimakommissar auf, um Premier zu werden. Nach erst enttäuschenden Umfragen holt er nun auf. Die Frage ist nur: Reicht das für ein linkes Comeback, oder kommt doch der deutliche Rechtsruck?
Vermutlich sind vier Parteien nötig für eine Mehrheit der 150 Sitze zählenden Zweiten Kammer. Die rechtsliberale Yesilgöz will mit dem Zentrums-Mann Omtzigt regieren und sucht noch Partner auf der rechten Seite.
Und da kommt der Rechtspopulist Wilders (60) ins Spiel. Bisher hatten ihn fast alle Parteien wegen seiner Hetze gegen den Islam ausgeschlossen. Omtzigt hat zwar weiterhin Bedenken, doch die VVD ist offen für Zusammenarbeit. Damit machte sie, wie Beobachter und Oppositionelle sagen, Wilders überhaupt salonfähig. Und der wittert seine Chance. Der Rechtsaußen startete eine Charme-Offensive und mottete sogar seinen Kampf gegen den Islam ein. «Das hat zurzeit keine Priorität», sagt er - sein neuer Beiname: «Geert Milders».