EXETER: Nicht nur Vögel, auch Insekten ziehen auf der Flucht vor dem Winter in den warmen Süden. Nur sind die winzigen Wesen hoch oben in der Luft meist nicht zu erkennen. Forscher haben ihnen nun dort aufgelauert, wo sie dicht am Boden bleiben müssen.
An einem Gebirgspass in den Pyrenäen spielt sich alljährlich ein beeindruckendes Schauspiel ab: Geschätzt mehr als 17 Millionen Insekten wandern im Herbst durch eine 30 Meter breite Lücke zwischen zwei Gipfeln an der französisch-spanischen Grenze, wie ein Forschungsteam im Fachjournal «Proceedings B» der britischen Royal Society berichtet. «So viele Insekten zu sehen, die sich alle gleichzeitig zielstrebig in dieselbe Richtung bewegen, ist wirklich eines der großen Wunder der Natur», sagte Mitautor Karl Wotton von der University of Exeter.
Viele der gen Süden ziehenden Insekten am Puerto de Bujaruelo sind der Analyse zufolge bekannte Gartenbewohner wie der Kohlweißling (Pieris rapae), die Augenfliege (Musca autumnalis) oder winzige, kaum drei Millimeter lange Grasfliegen (Chloropidae). «Es war magisch», sagte Studienleiter Will Hawkes von der University of Exeter. «Wenn ich mein Netz durch die scheinbar leere Luft schwang, war es voller winziger Fliegen, die sich alle auf dieser unglaublich großen Wanderung befanden.»
Milliarden fliegen über die Pyrenäen
Die Ergebnisse für diesen einen Pass deuten demnach darauf hin, dass jedes Jahr insgesamt Insekten im zweistelligen Milliardenbereich die Pyrenäen überqueren und bis nach Spanien, teils gar bis nach Afrika weiterziehen. «Diese wandernden Insekten, insbesondere die Fliegen, sind von enormer Bedeutung für unseren Planeten», teilte die University of Exeter mit. Fast 90 Prozent der erfassten Insekten seien Bestäuber und transportierten mit ihrer Wanderung genetisches Material über große Entfernungen zwischen Pflanzenpopulationen, was die Pflanzengesundheit verbessere.
Im Zuge des Klimawandels sei allerdings mit einer stetig zurückgehenden Zahl ziehender Insekten zu rechnen, hieß es. Mit engagiertem Umwelt- und Klimaschutz seien aber auch wieder positive Entwicklungen möglich: «Insekten sind widerstandsfähig und können sich schnell wieder erholen», so Hawkes.
Das Forschungsteam nutzte aus, dass sich die tagsüber ziehenden Insekten bei bestimmten Windverhältnissen niedrig über dem Pass halten und gut gezählt werden können. «Die Kombination aus hoch gelegenen Bergen und Windmustern macht aus einer normalerweise unsichtbaren Höhenwanderung ein vom Boden aus zu beobachtendes Spektakel», erklärte Wotton. Etwa 90 Prozent der über vier Jahre hinweg im Herbst erfassten Insekten waren Fliegen. Bekannte Wanderinsekten wie Schmetterlinge und Libellen machten weniger als zwei Prozent der Gesamtmenge aus, wie das Team berichtet.
Zufällige Entdeckung
Schon vor mehr als 70 Jahren, im Oktober 1950, hätten zwei Biologen - die Vogelkundler Elizabeth und David Lack - vom unglaublichen Spektakel der Insektenwanderung am Puerto de Bujaruelo berichtet, erklärte Hawkes. Der damals zufällig entdeckte Zug von Schwebfliegen und anderen Insekten vom Norden in den Süden sei der erste aufgezeichnete Fall von Fliegenmigration in Europa gewesen.
Das Team sei nun zum selben Pass aufgebrochen, um zu sehen, ob diese Migration immer noch stattfindet, und um Anzahl und Arten zu bestimmen. Dabei setzten die Forschenden auf Aufnahmen einer Videokamera, die gezielte Beobachtung von Schmetterlingen sowie eine Flugabfangfalle. «Was wir gefunden haben, war wirklich bemerkenswert», so Hawkes.
3000 Individuen pro Meter und Minute
Noch immer sei die Zahl dort ziehender Schwebfliegen wie der Gemeinen Feldschwebfliege (Eupeodes corollae) groß: «Es gab Tage, an denen die Zahl der Fliegen weit über 3000 Individuen pro Meter und Minute lag.» Studien aus anderen Regionen Europas zeigten allerdings einen drastischen Rückgang der Zahl der Wanderschwebfliegen um teils mehr als 90 Prozent seit 1970. Daher sei auch für den Pass davon auszugehen, dass dort vor Jahrzehnten noch ein Vielfaches an Insekten unterwegs war.
Der Puerto de Bujaruelo - auch Port de Boucharo genannt - liegt rund 2270 Meter hoch und ist einer von vielen Pässen der Gebirgsregion. Beliebt ist er nicht nur bei Insekten: Auch viel genutzte Wanderwege führen dort entlang.