In Tschernihiw wirkt der Schrecken der Belagerung nach

Bäume in der Nähe des Ortes eines Raketeneinschlags in Tschernihiw. Foto: epa/Atalia Levdokymova
Bäume in der Nähe des Ortes eines Raketeneinschlags in Tschernihiw. Foto: epa/Atalia Levdokymova

TSCHERNIHIW: Alte Kirchen überlebten, Hunderte Menschen starben - die ukrainische Stadt Tschernihiw war 2022 wochenlang von Russen eingekesselt. Nach einer Phase gespannter Ruhe rückt der Krieg wieder näher.

Vor zwei Jahren hätte die Stadt Tschernihiw im Norden der Ukraine beinahe das gleiche Schicksal erlitten wie Mariupol im Süden. Der Gebietshauptstadt 200 Kilometer nördlich von Kiew drohte die Zerstörung. Vom Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 bis Anfang April 2022 war Tschernihiw fast vollständig eingekesselt. In 40 Tagen Blockade saßen die Menschen in ihrer Stadt fest ohne Strom, Heizung und Wasser, mit wenig zu essen, in Dauerangst vor Bomben.

In diesem Frühjahr ist Tschernihiw wieder eine beschauliche, grüne Provinzstadt. Ein Teil der Schäden ist ausgebessert, doch der Schrecken sitzt tief. «Jetzt greift die russische Armee bei Charkiw an, und wir machen uns Sorgen», sagt Museumsmitarbeiterin Alla Harkuscha. Der Krieg rückt wieder näher. Russland hat bei Charkiw im Osten eine neue Front eröffnet, dasselbe könnte in Nachbarschaft von Tschernihiw im Gebiet Sumy passieren. Am Samstag töteten russische Bomben mindestens 16 Menschen in einem belebten Baumarkt in Charkiw. Ein Geschäft dieser Kette und ähnliche Shoppingcenter gibt es auch in Tschernihiw.

Die alten Kirchen standen schutzlos unter Bomben

Harkuscha und ihre Kollegen hatten bei Angriffsbeginn nur wenige Stunden, um ihre Schätze zu retten. «Wir haben die Exponate abgebaut und versteckt. Wir konnten sie nicht mehr aus der Stadt bringen», erzählt die Abteilungsleiterin beim Denkmalkomplex Alt-Tschernihiw. Wertvolle Ikonen verschwanden tief im Keller.

Das einzigartige architektonische Erbe der Stadt stand schutzlos auf dem Hochufer über dem Fluss Desna: viele mittelalterliche orthodoxe Kirchen und Klöster, manche 1000 Jahre alt. «Die Geschosse flogen über uns hin und her», sagt Harkuscha. Die Bauten belegen, wie bedeutend die Stadt im Großreich Kiewer Rus war. Das Teilfürstentum Tschernihiw reichte nach Osten bis an die Wälder, aus denen einmal das Fürstentum Moskau werden sollte.

Die alten Gotteshäuser entgingen 2022 der Zerstörung. «Die meisten Schäden waren unbedeutend», sagt Harkuscha. An der Außenmauer des Dreifaltigkeitsklosters gibt es Schrapnell-Spuren. Harkuscha schließt nicht aus, dass die russischen Truppen zu Anfang des Krieges Rücksicht auf Kulturdenkmäler nahmen. Später habe sich das geändert, sagt sie und verweist auf die 2023 zerschossene Hauptkirche von Odessa.

Eine kleine Brücke als Ausweg

Der Bevölkerung in Tschernihiw wurde übler mitgespielt. Am 3. März 2022 schlugen russische Bomben in Wohnhäuser an der Tschernowol-Straße im Zentrum ein: 47 Tote. Am 16. März 2022 tötete eine Bombe 16 Menschen, die für Brot anstanden. Während der Blockade kamen etwa 700 Menschen ums Leben, wie der damalige Bürgermeister Wladyslaw Atroschenko sagte. Die Bevölkerung schrumpfte von 285.000 Einwohner auf 95.000. Doch alle Fluchtwege waren gefährlich. Gegen Ende blieb nur eine Fußgängerbrücke über die Desna als Ausweg. Aber auch dort zeigen Einschusslöcher bis heute, wie riskant diese Route war.

Viktor Jerko (40), der heutige Bürgermeister Olexander Lomako und andere Freiwillige verteilten Lebensmittel in der eingekreisten Stadt. Der Elektroingenieur Jerko hat Erfahrung in Konflikten, er hat seit 2014 ukrainische Truppen im Donbass in der Ostukraine versorgt. Aus einem Kaufhaus schleppten er und seine Frau mit Erlaubnis der Polizei warme Kleidung zu Soldaten im Verteidigungsring um Tschernihiw. «Wir haben uns auf einen Partisanenkampf vorbereitet», erzählt der Vater zweier Kinder. Mit Öl und Benzin aus einer Werkstatt bastelte er Molotow-Cocktails.

Der zerstörte Traum vom eigenen Sushi-Restaurant

Die Datscha der Jerkos am Stadtrand blieb heil. Aber in der Nähe sprengte die ukrainische Armee die Brücke über den Fluss Stryschen, um die Russen zu stoppen. Den Traum der Familie vom eigenen Sushi-Restaurant machte der Krieg zunichte. Das gekaufte Lokal erlitt einen Treffer. Tetjana Jerko fertigt die Fischröllchen nun zu Hause in der Küche und verkauft sie über Lieferdienste.

In den ersten Kriegsnächten verbarg sich Alla Harkuscha mit ihrem Enkel im Museumsbüro. «Meine Generation hatte keine direkte Erfahrung mit Krieg», sagt sie. Die Tage waren gefüllt mit der Suche nach Wasser oder Lebensmitteln. «Ich hatte keine Eier. Wer welche wollte, musste stundenlang anstehen, nur um zehn Stück zu kaufen», erzählt sie. Am schlimmsten seien die dunklen, kalten Nächte gewesen: «Da schleicht sich eine Angst an, die lähmt.»

Als die russischen Truppen den Vormarsch nach Kiew abbrachen und den Norden der Ukraine räumten, atmete Tschernihiw auf. Nicht dass die Stadt danach von schlimmen Angriffen verschont geblieben wäre: Im August 2023 tötete eine russische Iskander-Rakete sieben Menschen; im April dieses Jahres kamen 18 Zivilisten durch Treffer mit Marschflugkörpern um.

Trotzdem ist das Leben wieder normaler. Schäden wurden behoben, auch mit Hilfe aus dem Ausland. Derzeit finanziert die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) den Bau einer neuen Wasserleitung. Die Straßenbrücke über die Desna, aus der Luft zerstört, wurde durch einen Neubau ersetzt. Die Gebietsverwaltung macht bei der Stadt Druck, die Besitzer zerstörter Wohnungen schneller zu entschädigen.

Stadt gräbt neue Schützengräben

Tschernihiw hat in Absprache mit der Armee neue Verteidigungsstellungen angelegt, falls wieder angegriffen wird. Bürgermeister Lomako will sich das nicht als Verschwendung von Steuermitteln schlechtreden lassen. «Wenn es notwendig ist, die Stadt zu verteidigen, machen wir das mit diesem schmutzigen Brief, dem Gutachten des Nationalen Rechnungshofs?», fragte er erbost.

Aktivist Jerko sieht mit Sorge, wie sich die Lage der Ukraine zuletzt verschlechtert hat - durch die Pause bei Waffenlieferungen aus den USA und Europa, aber auch durch interne Probleme. «Wir kämpfen für unsere Unabhängigkeit. Da müssten wir uns vereinen, Stadt, Land, die Führung», sagt er. «Sonst geht alles verloren.»

Solidarität mit Verteidigern von Mariupol

Sein Neffe Oleksij diente im ukrainischen Regiment Asow und wurde bei Mariupol getötet, erzählt er. Deshalb geht Jerko samstags oft zu Kundgebungen, auf denen die Freilassung der Asow-Kämpfer gefordert wird. Die Einheit, nach Gründung 2014 wegen rechtsextremer Kämpfer in der Kritik, später in die Nationalgarde eingegliedert, zählte zu den letzten Verteidigern von Mariupol. Sie mussten sich im Mai 2022 ergeben; etwa 900 dieser Soldaten und Soldatinnen sind geschätzt noch in russischer Gefangenschaft. Für die Ukraine sind sie Helden, und sie sollen nicht in Vergessenheit geraten. Im Zentrum von Tschernihiw stehen einige Dutzend Menschen mit Plakaten «Freiheit für Asow»; Autofahrer hupen solidarisch. Ihre Stadt ist bislang glimpflicher davongekommen als das dauerhaft russisch besetzte Mariupol.

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