Herzrasen im Peloton

Australischer Meister im Straßenradsport Heinrich Haussler vom IAM Cycling Team. Foto:epa/Dan Peled Australien Und Neuseeland Aus
Australischer Meister im Straßenradsport Heinrich Haussler vom IAM Cycling Team. Foto:epa/Dan Peled Australien Und Neuseeland Aus

LEIPZIG: Allein in diesem Jahr mussten fünf Radprofis mit teilweise gravierenden Herzproblemen ihre Karriere beenden. Eine allgemeine Erklärung gibt es nicht. Dafür aber einen Verdacht.

Die letzten Monate der Karriere von Heinrich Haussler lassen einen bisweilen fassungslos zurück. Im Spätsommer 2022 war der Radprofi an Covid-19 erkrankt, fuhr dennoch die Deutschland-Tour. Schließlich wollte er für die WM in seinem Geburtsland Australien nominiert werden. Danach hatte er fast täglich im Training Herzprobleme. Im WM-Rennen traten die Rhythmusstörungen wieder auf, Haussler hielt sich zwei Minuten am Teamwagen fest - und fuhr das Rennen voll zu Ende.

Weil sich die Probleme nicht legten, die 2020 erst- und einmalig im Training aufgetreten waren, verordnete ihm sein Team letztlich eine Pause. Es folgte ein Neustart, doch das Herz spielte nicht mit. Der Teamarzt befahl strikte Ruhe. «Also saß ich daheim auf der Couch», sagte Haussler der «Badischen Zeitung». «Nach einer Woche hab' ich gedacht: Einmal locker laufen gehen muss drin sein. Was soll schon passieren? Da bin ich zusammengebrochen.»

Kein Einzelfall

Nach dem Kollaps beim Joggen wurde Haussler ein Defibrillator eingesetzt. Die Diagnose Ventrikuläre Tachykardie, eine lebensbedrohliche Rhythmusstörung, hieß übersetzt: Karriereende. Was auffällt: Haussler ist kein Einzelfall. Mindestens vier weitere Radprofis mussten in diesem Jahr ihre Karriere wegen Herzproblemen beenden.

Der Belgier Nathan Van Hooydonck, Helfer bei beiden Tour-de-France Siegen von Jonas Vingegaard, verlor im September am Steuer seines Wagens das Bewusstsein. Neben ihm saß seine schwangere Freundin. Beide erlitten nur leichte Verletzungen, bei Van Hooydonck wurde eine Herzmuskelanomalie diagnostiziert. Der Niederländer Wesley Kreder erlitt Ende August im Schlaf einen Herzinfarkt, überlebte dank des schnellen Eingreifens seiner Frau. Wenige Tage später stieg der Däne Niklas Eg vom Rad, im Training hatte er plötzliches Herzrasen festgestellt. So war es bereits Sep Vanmarcke ergangen, der Belgier musste Anfang Juli aufgeben.

Fahrer sensibilisiert

Im Peloton herrscht deshalb keine Panik, doch es geht eine gewisse Sorge um. «Aufgrund der Veröffentlichungen sind die Fahrer sensibilisiert worden», sagte Dr. Ortwin Schäfer der dpa. Der Saarländer ist Chefarzt des deutschen Top-Teams Bora-hansgrohe und seit vielen Jahren im Radsport dabei. Er geht unter anderem der Frage nach, ob die jahrelang unter hochintensiver Belastung fahrenden Radprofis an einem gewissen Punkt anfälliger für Herzkreislauferkrankungen werden. Konkret: Ist sehr viel Sport irgendwann zu viel?

Allgemein gültige Antworten kann man darauf noch nicht geben. Jeder Fall muss individuell betrachtet werden, da das Herzkreislaufsystem äußerst komplex ist und diverse Parameter beachtet werden müssen. Dazu zählen unter anderem angeborene Herzerkrankungen, akute Herzmuskelentzündungen, Lebensumstände, Medikamente oder auch mögliches Doping. Erschwerend hinzu kommt die teilweise zurückhaltende Kommunikation. Nicht jeder Fahrer teilt wie Haussler seine Diagnose.

Sport als «beste Pille»

Für eine umfassende französische Studie wurden Daten von Teilnehmern der Tour de France zwischen 1947 und 2012 gesammelt. Dabei registrierte man unter den 786 Teilnehmern eine um 41 Prozent niedrigere Sterblichkeit im Vergleich zur männlichen französischen Bevölkerung. «Die Ergebnisse erlauben jedoch kein Urteil über die Balance zwischen positiven Auswirkungen sportlicher Betätigung auf hohem Niveau und den potenziell schädlichen Auswirkungen übermäßiger körperlicher Betätigung oder angeblichen Dopings», hieß es im Fazit der Studie.

Schäfer betont, dass generell Sport die «beste Pille ist, die man verschreiben kann». Doch auch er stellt sich eine durch Beobachtungen im absoluten Spitzensport aufgekommene Frage, die er zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten kann: «Kann durch hochintensive Belastung über einen langen Zeitraum eine Überbeanspruchung des Herzkreislaufsystems auftreten?»

Es gibt zumindest Hinweise darauf. Je nach Studie wird bei Spitzensportlern ein zwei- bis zehnfach erhöhtes Risiko für Vorhofflimmern als in der Normalbevölkerung beschrieben und ihre Koronararterien sind häufiger kalkhaltig. Auch finden sich vermehrt narbige Veränderungen am Herzmuskel. Die zuletzt zum Karriereende gezwungenen Sportler haben meist schon früh mit hohen Volumina und Belastung trainiert. «Das ist alles Gegenstand aktueller Forschung», sagte Schäfer. Sport sei generell gesund, doch «ob die Kurve irgendwann kippt, kann niemand sagen».

Nachbessern des Weltverbandes gefordert

Was die Früherkennung von Herzproblemen angeht, ist der Weltverband UCI nach Schäfers Meinung gut aufgestellt. Viermal im Jahr werden in Bluttests Entzündungs- und Belastungswerte bestimmt. Vor einer Saison muss sich jeder Radprofi einem umfassenden Screening unterziehen mit einem Ruhe-EKG sowie jährlich wechselnd einem Herz-Ultraschall und einem Belastungs-EKG.

Schäfer bemängelt allerdings die fehlende Definition, wie ein Herz-Ultraschall durchgeführt werden muss. «Man kann tausend Sachen messen, aber es müssten mal Standards festgelegt werden, was im Sport wichtig ist», sagte der Mediziner. Tatsächlich lassen sich durch das Screening nicht jedes Ödem oder jede kleine Narbe auf dem Herzen finden. Schäfer führt deshalb bei seinen Sportlern zusätzlich eine Strain-Analyse durch, eine Verformungsanalyse des Herzens. Er würde sich wünschen, dass dies zur Pflicht wird.

Im Fall Haussler sind die Gründe für dessen Krankheit noch immer unklar. Allerdings hat der 39-Jährige, der heute Sportlicher Leiter bei Bora-hansgrohe ist, für das Leben gelernt - und möchte diese Erfahrung unbedingt weitergeben. «Erkältet oder mit Corona einen Wettkampf zu beenden. Da bin ich strikt dagegen», sagte der Tour-Etappensieger von 2009. Denn es gebe noch das Leben danach.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder

Es sind keine Kommentare zum Artikel vorhanden, bitte schreiben Sie doch den ersten Kommentar.