Geburtstag in bewegten Zeiten

25 Jahre Schengenraum zur Corona-Krise

Blick auf den Ortseingang von Schengen in Luxemburg am 22. März 1995. Foto: Werner Baum/Dpa
Blick auf den Ortseingang von Schengen in Luxemburg am 22. März 1995. Foto: Werner Baum/Dpa

BRÜSSEL: Europaweites Reisen ohne Grenzkontrollen: Dieser Traum wurde vor 25 Jahren mit dem Schengenraum Realität. In Zeiten von Covid-19 ist davon jedoch nichts geblieben. Eine Bestandsaufnahme zum Jubiläum.

Freies Reisen, offene Grenzen - dieses europäische Versprechen ist in Zeiten von Covid-19 weitgehend ausgehebelt. Dabei feiert der kontrollfreie Schengenraum dieser Tage Geburtstag: 25 Jahre ist es her, dass in sieben europäischen Staaten die Grenzkontrollen abgeschafft wurden. Über ein Jubiläum in bewegten Zeiten.

Am 26. März 1995 fielen die Schlagbäume zwischen Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien, den Niederlanden, Portugal und Spanien. Für viele Europäer bedeutete das eine neue Freiheit. Plötzlich konnten sie von Lissabon über Madrid und Paris nach Berlin reisen, ohne ihren Ausweis vorzulegen. Für die Jüngeren ist das heute eine Selbstverständlichkeit.

Jahrelang wuchs der Schengenraum, benannt nach einer kleinen Gemeinde in Luxemburg am Dreiländereck mit Deutschland und Frankreich. 20 weitere Staaten haben sich mittlerweile angeschlossen, darunter Nicht-EU-Länder wie die Schweiz oder Norwegen. Zuletzt kam 2011 Liechtenstein hinzu. Alle haben gemeinsame Standards für den Außengrenzschutz. Das Schengener Informationssystem hilft im Kampf gegen Kriminalität. Weitere Länder wie Kroatien klopfen an der Tür.

Dabei hat Schengen schon heftige Krisen durchgemacht. Die wohl größte kam mit der großen Flüchtlingsbewegung 2015/16. Sechs Staaten führten Grenzkontrollen ein: Deutschland am 13. September 2015, zunächst mit der Begründung des großen Anstiegs Asylsuchender.

Mittlerweile argumentiert Deutschland mit unzureichendem Schutz der EU-Außengrenzen sowie damit, dass viele Asylbewerber von einem EU-Staat in den nächsten zögen. «Bis der Schutz der EU-Außengrenzen effektiv funktioniert, sind Binnengrenzkontrollen vertretbar», heißt es im Koalitionsvertrag. Zu welchem Zeitpunkt das sein wird, machten CDU/CSU und SPD nicht klar, kritisiert Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die Formulierung komme einer Einladung gleich, die Kontrollen immer wieder zu verlängern.

Dabei waren die Kontrollen Bossong zufolge schon vor der Coronakrise kaum mehr mit dem Schengen-Kodex vereinbar. Dieser sieht nur eine «zeitweise» Wiedereinführung von Grenzkontrollen vor. Der ehemalige EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos warnte schon vor Jahren: «Wenn Schengen stirbt, stirbt Europa.»

Die Aussicht auf ein Ende der Kontrollen war zuletzt dennoch nicht erkennbar. Der französische Präsident Emmanuel Macron, dessen Land im Herbst 2015 ebenfalls Grenzkontrollen wieder einführte, brachte stattdessen ins Spiel, den Schengenraum notfalls zu verkleinern. Dies sollte in Erwägung gezogen werden, wenn sich nicht alle Länder an gemeinsame Standards hielten - etwa beim Außengrenzschutz.

In Zeiten der Corona-Krise hat sich all das erstmal erledigt. 14 europäische Länder kontrollieren mittlerweile ihre gesamten oder Teile ihrer Binnengrenzen - von Deutschland über Polen, Tschechien, Estland, Spanien, Österreich bis zur Schweiz.

An der deutschen Grenze zu Polen bildeten sich mitunter Megastaus von 60 Kilometer. Helfer sprachen von einer «humanitär bedenklichen Situation», die Menschen mussten teils 20 Stunden warten. Mittlerweile wurden die größten Probleme gelöst. Die EU-Kommission spricht nur noch von ein bis zwei Stunden Stau an einigen Grenzübergängen.

Deutschland kontrolliert an den Grenzen zu Österreich, Dänemark, Frankreich, Luxemburg und der Schweiz. «Für Reisende ohne triftigen Reisegrund gilt, dass sie nicht mehr einreisen können», sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer. Schengen ade! Aber bis wann? Oder für immer?

Diese Aussetzung von Schengen wollte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen eigentlich verhindern - und scheiterte. Um die Kontrollen im Inneren überflüssig zu machen, schlug sie vor, Europa solle sich nach Außen stärker abschotten. Die EU-Staaten verständigten sich daraufhin zwar auf ein Einreiseverbot für die meisten Nicht-EU-Bürger, die Binnenkontrollen lockerten sie aber nicht.

SWP-Experte Bossong sieht infolge dieser neu eingeführten Grenzkontrollen zwei mögliche Gefahren. Erstens: Sollte die Krise anhalten, könnten die Kontrollen immer wieder verlängert werden. Den Schengenraum gäbe es de facto nicht mehr. «Dann steht der gesamte europäische Binnenmarkt auf dem Spiel.»

In diesem Fall wäre der wirtschaftliche Schaden allerdings zu groß, glaubt Bossong. Deshalb befürchtet er ein anderes Szenario und fragt: «Was ist der Preis für die Freizügigkeit im Inneren?» Seiner Meinung nach könnte Europa sich weiter nach Außen abschotten. Die ersten Opfer seien irreguläre Migranten. Schon jetzt habe Griechenland das Asylrecht ausgesetzt. «Das könnte sich verfestigen.»

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