Der Zorn der Straße

Wut in Nahost gegen Israel wächst

Proteste vor der US-Botschaft im Libanon: Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Foto: epa/Abbas Salman
Proteste vor der US-Botschaft im Libanon: Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Foto: epa/Abbas Salman

BEIRUT/ISTANBUL: Die Angriffe auf Gaza nach dem Massaker der islamistischen Hamas schweißen die muslimische Welt gegen Israel zusammen. Der Entspannungskurs in Nahost wird wieder in Frage gestellt. Doch der Zorn richtet sich nicht nur gegen Israel.

Als die Nachricht eines Raketeneinschlags bei einer Klinik im Gazastreifen mit möglicherweise Hunderten Toten die Runde macht, ist die muslimische Welt in heller Aufruhr. Schon seit Tagen droht die Stimmung in den Ländern der Nahost-Region wegen des Gaza-Kriegs zu kippen. Wütende Menschenmassen strömen mitten in der Nacht in Beirut, Kairo, Istanbul und auch Bagdad auf die Straßen, um sich mit den Palästinensern zu solidarisieren. «Tod für Israel», riefen Teilnehmer der spontan organisierten Demonstrationen.

Eine türkische Tageszeitung titelt: «Hey Europa! Israel ermordet Kinder in Gaza und Du schweigst.» Eine andere und zunehmend wahrscheinlichere Version der Dinge, dass auch eine fehlgeleitete Rakete militanter Palästinenser für die Explosion verantwortlich sein könnte - sie dringt in der Türkei und arabischen Welt kaum durch. Mehr als 1400 Menschen wurden seit dem Großangriff der Hamas am 7. Oktober in Israel getötet. Im Gazastreifen kamen nach Darstellung des Gesundheitsministeriums der Hamas bereits 3785 Menschen ums Leben.

Schuldzuweisungen der Nachbarländer Israels

«Alle hier glauben, dass Israel dafür verantwortlich ist», sagte der jordanische Außenminister Aiman al-Safadi dem Sender CNN. Ein Treffen von US-Präsident Joe Biden in Amman mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und Ägyptens Staatschef Abdel Fattah al-Sisi sagte Jordanien kurzerhand ab. 1994 hatten Jordanien und Israel Frieden geschlossen. Lange war das Land neben Ägypten der einzige arabische Staat, der diplomatische Beziehungen zum Nachbarland unterhielt.

Aus Kairo kommen bereits seit Tagen scharfe Töne: Die israelische Reaktion gehe über das Recht auf Selbstverteidigung hinaus und komme einer «kollektiven Bestrafung» gleich, erklärte der ägyptische Präsident Al-Sisi. Die ursprünglichen Massaker der Hamas am 7. Oktober scheinen in der Debatte keine Rolle mehr zu spielen. Ägypten bemüht sich aber vor allem um Deeskalation in dem Konflikt, wohl auch aus Eigeninteresse.

«Ägypten möchte natürlich auch nicht in den Konflikt dahingehend hineingezogen werden und verhindern, dass man plötzlich Millionen oder Hunderttausende Flüchtlinge auf ägyptischem Staatsgebiet hat», sagt der Nahost-Experte Daniel Gerlach. «Deshalb handelt man strategisch und relativ emotionslos, was den Umgang mit dem Krieg in Gaza anbelangt.» Auch die guten Beziehungen zu den USA wolle Ägypten nicht aufs Spiel setzen.

Friedensprozesse in Gefahr?

Die halb abgebrochene Mission von US-Präsident Biden im Nahen Osten habe indes nicht dazu geführt, die Glaubwürdigkeit der Amerikaner zu stärken, sagt Gerlach. «Gegenüber einigen arabischen Staaten ist vermutlich jetzt der Eindruck entstanden: Die Amerikaner haben eigentlich nicht verstanden, was die Stunde geschlagen hat. Sie interessieren sich für die Sicherheit Israels und die Bekämpfung des Terrors, wollen sich aber derzeit nicht für eine Lösung des Nahostkonflikts engagieren, die palästinensische Interessen würdigt.»

Sorge vor einem regionalen Krieg

Nördlich von Israel im Libanon rief die eng mit dem Iran verbündete Schiitenorganisation Hisbollah zu einem «Tag des beispiellosen Zorns» auf, dem Tausende Anhänger folgten. Schon seit Tagen demonstriert die Miliz mit gezielten Raketenangriffen ihre Kampfbereitschaft. In vielen Ländern der arabischen Welt richteten sich die Proteste auch gegen Vertretungen der USA, die im Krieg an Israels Seite stehen.

Die Reaktionen der Staaten, die im Rahmen der Abraham-Abkommen ihre Beziehungen mit Israel normalisiert hatten und sich bisher zurückhaltend äußerten, lesen sich immer schärfer. Die Vereinigten Arabischen Emirate etwa gaben alleine Israel die Schuld an der Explosion bei dem Krankenhaus. Der Golfstaat Bahrain äußerte sich ähnlich. Die Regionalmacht Saudi-Arabien will ihre Gespräche über eine mögliche Normalisierung schon zuvor auf Eis gelegt haben.

Wenige Zwischentöne

«Diejenigen, die die Katastrophe frühzeitig als ein israelisches Kriegsverbrechen mit Hunderten von Toten in Gaza dargestellt haben, waren - was auch immer am Ende bei den Untersuchungen rauskommt - auf jeden Fall erfolgreich», sagt Experte Gerlach.

Um Ausgeglichenheit bemühte Stimmen gibt es wenige. Eine davon ist die türkische Journalistin Nevsin Mengü. Auf der Plattform X schreibt sie schließlich: «Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Menschen nicht mehr nach der Wahrheit suchen oder sich für sie interessieren. Jeder ist hinter seiner eigenen Desinformation her.»

Erdogans Balanceakt zwischen Verbündeten und Anhängern

Der Nato-Staat Türkei gilt als Brücke zu Asien, so ist Präsident Recep Tayyip Erdogan um einen Balanceakt bemüht. Nach der Explosion sprach er von einer «in der Geschichte beispiellosen Brutalität» Israels. Später verzichtete er auf Schuldzuweisungen. Dass der Gaza-Krieg die Beziehungen zu Israel dauerhaft belastet, ist aber unwahrscheinlich. Erdogan gilt als Pragmatiker und will etwa bei der Freilassung von Geiseln vermitteln.

Wut im Westjordanland - nicht nur gegen Israel

Im Westjordanland, wo mehrheitlich Palästinenser leben, strömten nach der Explosion Tausende Menschen auf die Straßen. In mehreren Städten kam es zu gewalttätigen Konfrontationen mit Sicherheitskräften. Die Wut richtete sich nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die palästinensische Führung. Demonstranten versuchten auch, den Sitz von Präsident Mahmud Abbas zu stürmen.

Generell ist die Stimmung seit dem blutigen Überfall der Hamas auf Israel im Westjordanland extrem angespannt. Täglich kommt es zu tödlichen Auseinandersetzungen mit israelischen Soldaten oder israelischen Siedlern.

Abbas wird unter anderem vorgeworfen, mit Israel zusammenzuarbeiten und sich nicht ausreichend für die Rechte der Palästinenser in dem von Israel besetzen Gebiet einzusetzen. In der Stadt Hebron im Süden des Landes wurde er von Demonstranten als «israelischer Spion» beschimpft.

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