Anwälte erheben Vorwürfe im NSU-Prozess

 Rechtsanwalt Sebastian Scharmer (l.) vertritt die Tochter des türkischstämmigen Kioskbetreibers Mehmet Kubasik. Foto: epa/Andreas Gebert
Rechtsanwalt Sebastian Scharmer (l.) vertritt die Tochter des türkischstämmigen Kioskbetreibers Mehmet Kubasik. Foto: epa/Andreas Gebert

MÜNCHEN (dpa) - Fassungslose Blicke bei den Staatsanwälten im NSU-Prozess gegen mutmaßliche deutsche Rechtsterroristen: Nebenkläger werfen dem Staat vor, die Ermittlungen nach den Terrormorden vorsätzlich blockiert zu haben. Die Tochter eines Opfers wendet sich direkt an die Angeklagte.

Mehrere Opferanwälte im Prozess um das rechtsextreme Terrortrio «Nationalsozialistischer Untergrund» (NSU) haben dem deutschen Staat am Mittwoch vorgeworfen, die Aufklärung der terroristischen Morde bis heute zu hintertreiben.

Rechtsanwalt Sebastian Scharmer griff am Mittwoch vor allem die Bundesanwaltschaft und den deutschen Inlandsgeheimdienst an. «Es soll ein Schlussstrich gezogen werden», sagte Scharmer. Mit ihrer These, der NSU habe nur aus drei Personen bestanden und sich auch gegenüber der Szene abgeschottet, stelle die für Terrorismus zuständige oberste deutsche Anklagebehörde einen «Persilschein für die 13 Jahre lang falsch ermittelnden Behörden» aus.

Im Umfeld des NSU habe es mindestens 13 Informanten von Geheimdiensten gegeben. Von denen hätten einige Kontakt zu den abgetauchten Terroristen gehabt. Es sei naheliegend, dass sie den Aufenthalt oder die Mordpläne der Terroristen gekannt hätten.

Scharmer vertritt die Tochter des türkischstämmigen Kioskbetreibers Mehmet Kubasik. Er war am 4. April 2006 in Dortmund mutmaßlich von den beiden NSU-Mitgliedern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschossen worden. Seine Tochter Gamze wandte sich direkt an die Hauptangeklagte Beate Zschäpe. «Wenn es Ihnen irgendwann leidtut, dann antworten Sie. Ich habe immer noch so viele Fragen, auf die ich keine Antworten habe.»

Der dreiköpfigen Terrorzelle NSU werden zehn vorwiegend rassistisch motivierte Morde zugerechnet. Beate Zschäpe steht als einzige Überlebende des Trios vor Gericht. Ihre beiden Freunde Mundlos und Böhnhardt hatten sich nach einem gescheiterten Banküberfall im November 2011 das Leben genommen. Der Prozess läuft seit Mai 2013.

Anwalt Scharmer konfrontierte Zschäpe damit, dass sie im Falle einer lebenslangen Verurteilung in 13 Jahren erstmals versuchen könne, eine Bewährung zu bekommen. «Wenn Sie bereit sind, alle (Unterstützer) zu benennen, würde sich Gamze Kubasik persönlich beim späteren Gericht einsetzen, dass die Aufklärung honoriert wird», sagte Scharmer. «Überlegen Sie es sich gut, Frau Zschäpe.»

Kritik übte er auch an der Verhandlungsführung des Münchner Oberlandesgerichts. Das habe zahlreiche Beweisanträge abgelehnt, obwohl es zur Aufklärung verpflichtet sei. Viele Akten seien zurückgehalten worden. Folglich hätten widerspenstige Zeugen aus der Neonaziszene oder den Geheimdiensten nicht mit Fakten aus diesen Unterlagen konfrontiert werden können.

Beispielhaft nannte Scharmer den früheren Chef des Netzwerks «Blood & Honour». Der habe im Prozess behauptet, nie als Informant tätig gewesen zu sein. Erst später - nach Abschluss der Beweisaufnahme - sei herausgekommen, dass er für den Inlandsgeheimdienst Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) arbeitete. Das BfV hätte das Gericht daraufhin informieren müssen, dass diese Aussage falsch war. Der Geheimdienst habe aber geschwiegen.

Rechtsanwalt Carsten Ilius, der die Witwe Kubasiks vertritt, hielt den Anklägern vor, sie wollten «das Bild eines postnazistischen, schönen, freien Deutschlands» nicht beschädigen. «Dazu passt ein Trio, das am Rand des Wahnsinns agiert, besser als ein verzweigtes Netzwerk». Ermittlungen über NSU-Unterstützer in Dortmund habe die Bundesanwaltschaft nicht gewollt und, soweit die Nebenkläger sie führen wollten, «erfolgreich verhindert».

Der Prozess befindet sich in der Schlussphase der Plädoyers. Die Anklage hat lebenslange Haft für Beate Zschäpe gefordert. Seit der vergangenen Woche plädieren die Angehörigen der Opfer und ihre Anwälte. Erwartet werden insgesamt rund 50 Nebenklage-Plädoyers.

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