Niederlanden droht unsichere Zukunft

​Was nun Herr Rutte?

Der Parteivorsitzende der VVD, Mark Rutte, reagiert im Unterhaus auf die Ergebnisse der Unterhauswahlen in Den Haag, Niederlande. Foto: epa/Bart Maat
Der Parteivorsitzende der VVD, Mark Rutte, reagiert im Unterhaus auf die Ergebnisse der Unterhauswahlen in Den Haag, Niederlande. Foto: epa/Bart Maat

DEN HAAG: Die Niederländer wählen in der Corona-Krise Stabilität. Nach zehn Jahren Rutte wird es wohl kaum einen Machtwechsel in Den Haag geben. Aber Premier Rutte sollte sich nicht zu früh freuen.

Das Lachen vergeht dem niederländischen Premier Mark Rutte nicht so schnell. Und auch am Tag der Parlamentswahl am Mittwoch strahlt er. Alle Umfragen sehen ihn und seine rechtsliberale Partei für Freiheit und Demokratie (VVD) unangefochten auf Rang 1. Es scheint unvermeidlich: Der 54-Jährige wird erneut, zum vierten Mal, Regierungschef der Niederlande.

Die Wahl unter dem Zeichen der Corona-Pandemie bringt zwar keinen Machtwechsel, aber auch kaum Sicherheiten. Ab Donnerstag beginnt die Suche nach Koalitions-Partnern. Und die Verhandlungen werden mühsam. 225 Tage dauerte es nach der Wahl 2017 - ein böses Vorzeichen.

Ob Rutte erneut mit seinen bisherigen drei Partnern eine Mitte-Rechts-Regierung bilden wird, ist längst keine ausgemachte Sache. Auch eine Koalition mit linken Parteien ist möglich. Denn ungewöhnlich stark ist die linksliberale D66 mit der bisherigen Außenhandels-Ministerin Sigrid Kaag in den Umfragen. Sie will nur mit einer anderen progressiven Partei in die Regierung zurückkehren.

17 Parteien könnten nach den Umfragen in das neue Parlament einziehen. Das gab es zuletzt 1918. Es zeigt die Zersplitterung des Landes, und ist ein schlechter Vorbote für die Stabilität. Womöglich sind fünf Parteien nötig, um eine stabile Mehrheit zu erreichen.

Rutte aber ist in seinem Element. «Je mehr desto besser», sagte er. «Das ist der Höhepunkt der Demokratie.» Tatsächlich ist ihm die Führung einer so großen Koalition zuzutrauen. «Rutte ist flexibel und pragmatisch», sagt der Amsterdamer Politologe Armèn Hakhverdian. «Er kann mit allen.»

Die Niederländer haben vor allem Stabilität gewählt, sie schätzen Rutte als Manager in der Corona-Krise. Doch ihr Votum ist kein ungeteiltes Ja für ihn.

Der Corona-Bonus des Premiers war in den vergangenen Wochen deutlich geschrumpft. Seine Glaubwürdigkeit hat erheblich gelitten unter der Affäre um Beihilfen für die Kinderbetreuung - Zehntausende Eltern waren zu Unrecht von der Steuerbehörde als Betrüger gebrandmarkt worden, sie mussten tausende Euros zurückzahlen. Die Regierung war zwar im Januar zurückgetreten, doch der Premier ging in den Wahlkampf, als wäre nichts geschehen - typisch «Teflon-Premier», an dem Probleme abgleiten wie das Ei aus der Pfanne.

Ein Jahrzehnt Rutte haben die Niederländer hinter sich. Doch die neue Ära soll anders werden, sagen viele Wähler. Für viele hat Ruttes Glauben an das Marktprinzip ausgedient. Ob Gesundheitssystem, Arbeitsmarkt, Sozialhilfe, Integration - überall galt sein Credo: Jeder muss für sich selbst sorgen und nicht auf den Staat hoffen. «Man muss sich seinen Platz erkämpfen», meint der Rechtsliberale.

Die Wähler wollen eine Wende, stellte der Meinungsforscher Peter Kanne vom Institut I&O Research fest. «Wähler sind linker, weil sie mehrheitlich gegen das Marktprinzip im öffentlichen Sektor sind.» Fast alle Parteien versprechen jetzt den Schwenk zurück zum Versorgungsstaat. Mehr staatlicher Wohnungsbau, höherer Mindestlohn, mehr soziale Sicherheit. Doch von diesem Linksrutsch können die linken Parteien nicht profitieren - sie sind zu zersplittert.

Die Frage ist: wie wendbar ist Rutte wirklich? Er selbst macht kein Geheimnis daraus, dass er lieber einen rechten Kurs fährt und hofft auf ein starkes Bündnis mit den Christdemokraten. Gemeinsam könnten sie beim Klimaschutz ebenso auf die Bremse treten wie bei höheren Steuern für Unternehmer.

Eine Koalition mit den äußerst Rechten wie dem Rechtspopulisten Geert Wilders schließen fast alle etablierten Parteien aus. Aber der Block der rechten Parteien ist nach den Umfragen stärker geworden.

Der Druck der EU-feindlichen Parteien bleibt also groß. Auch deshalb ist kein Kurswechsel bei der Europa-Politik zu erwarten. Das kommt ihm nur entgegen, denn schließlich ist die EU für ihn nur ein notwendiges Übel. «Mr. No», wie er in der EU genannt wird, wird weiter die Linie als Bremser und Sparer fortsetzen.

Zunächst aber geht es um die Bewältigung der Pandemie und dann den Wiederaufbau. Die Zukunft ist unsicher: Keiner weiß, wie lange das Virus noch das Leben beherrscht. Und die Aussichten für die Wirtschaft sind düster. Wie will Rutte das Land in die Zukunft führen? «Mit Realismus und Optimismus», sagte er am Vorabend der Wahl und strahlte. Das Lachen vergeht ihm eben nicht so schnell.


Parlamentswahl in den Niederlanden - Mit wem regiert Rutte?

DEN HAAG: Dass die Partei von Ministerpräsident Mark Rutte bei der niederländischen Parlamentswahl stärkste Kraft wird, steht nach Umfragen fest. Die große Frage ist, ob er künftig eher mit linken oder mit rechten Partnern regiert.

Unter erschwerten Corona-Bedingungen haben die Niederländer am Mittwoch ein neues Parlament gewählt. Der seit über zehn Jahren amtierende Ministerpräsident Mark Rutte steuerte dabei nach Umfragen auf einen Sieg zu. Seine rechtsliberale Partei VVD kann damit rechnen, unangefochten stärkste Kraft zu werden, was in der zersplitterten niederländischen Parteienlandschaft allerdings auch nur zwischen 20 und 25 Prozent der Stimmen bedeutet. Rutte ist deshalb weiterhin auf mehrere Koalitionspartner angewiesen.

Das Abschneiden der anderen Parteien könnte darüber entscheiden, ob die künftige Regierung eher ein Mitte-Rechts- oder ein Mitte-Links-Kabinett wird. Um den zweiten Platz hinter Ruttes VVD zeichnete sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Partei des Rechtspopulisten Geert Wilders und der linksliberalen D66 und ihrer Spitzenkandidatin Sigrid Kaag ab. Bisher regierte Rutte mit D66, der christdemokratischen CDA und der kleinen ChristenUnie. Denkbar wäre aber auch eine Mitte-Links-Regierung etwa mit den Sozialdemokraten und den Grünen.

Die wichtigsten Themen für die Wähler waren nach Umfragen der Zustand des Gesundheits- und Pflegesystems, die gestiegenen Mieten und Preise für Eigentumswohnungen, Klima und Umwelt sowie die Corona-Bekämpfung. Fast alle großen Parteien haben für die Zukunft «mehr Staat» versprochen. In der Corona-Pandemie waren unter anderem Schwächen des Gesundheitswesens offenkundig geworden, so wurden niederländische Corona-Patienten in nordrhein-westfälischen Krankenhäusern aufgenommen.

Um wegen Corona für mehr Abstand zu sorgen, richteten die Niederländer Wahllokale an ungewöhnlichen Orten ein, zum Beispiel in der Neuen Kirche in Delft, in der sich die Gruft der Königsfamilie befindet. In Den Haag wählte etwa der grüne Spitzenkandidat Jesse Klaver im Kunstmuseum mit Gemälden des Malers Piet Mondrian. In Utrecht gaben Wähler ihre Stimme in einem Friedhofsgebäude ab, in Arnheim in einem ehemaligen Gefängnis. Angehörige von Risikogruppen konnten bereits am Montag und Dienstag wählen. Nach einer Umfrage war mit einer ähnlich hohen Wahlbeteiligung wie vor vier Jahren zu rechnen, etwa 82 Prozent.

Um 15.45 Uhr hatte nach Schätzungen zufolge die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme angegeben. Insgesamt waren 13 Millionen Bürger des Königreichs aufgerufen, die 150 Abgeordneten der Zweiten Kammer des Parlaments zu wählen. 37 Parteien stellen sich zur Wahl - ein neuer Rekord. Nach den Umfragen könnten 17 von ihnen in die Zweite Kammer einziehen, davon acht mit weniger als fünf Prozent. In den Niederlanden gibt es keine Fünf-Prozent-Hürde, daher ist auch eine absolute Mehrheit für eine Partei faktisch unmöglich.

Die Niederlande befinden sich seit Mitte Dezember im Lockdown. Seit Ende Januar gilt auch eine Ausgangssperre. Mehr als 16.000 Menschen starben in Verbindung mit Covid-19, und die Infektionsraten sind seit Wochen hoch. Doch trotz regelmäßiger Demonstrationen steht aber noch immer eine Mehrheit der Bürger hinter der Corona-Politik der Regierung.

Koalitionsverhandlungen gestalten sich in den Niederlanden traditionell langwierig und kompliziert, weil daran immer vier oder fünf Parteien beteiligt sind. Rutte drängt aber darauf, dass es diesmal schneller gehen müsse: «Ich hoffe, dass sich jeder durch Corona im klaren darüber ist, dass wir schnell etwas haben müssen», sagte er.

Nur am Rande spielte die jüngste große Affäre um Kinderbeihilfen eine Rolle. Die Steuerbehörden hatten jahrelang Zehntausende Eltern zu Unrecht als Betrüger dargestellt. Sie mussten jeweils Zehntausende Euros bezahlen. Wegen der Affäre trat die Regierung Rutte im Januar zurück und ist seitdem nur noch geschäftsführend im Amt.

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