Dresdner Schau feiert «neue» Briefleserin und Vermeer

​Rückverwandelt 

Blick in Ausstellung während des Presserundgangs vor der Eröffnung «Johannes Vermeer. Vom Innehalten» der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) in der Gemäldegalerie Alte Meister. Foto: Robert Michael/dpa-zentralbild/dpa
Blick in Ausstellung während des Presserundgangs vor der Eröffnung «Johannes Vermeer. Vom Innehalten» der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) in der Gemäldegalerie Alte Meister. Foto: Robert Michael/dpa-zentralbild/dpa

DRESDEN: Restauratoren entdecken vor Jahren auf einem Dresdner Vermeer einen übermalten Amor, eine Sensation. Nun ist das Geheimnis in Gänze offenbart und das berühmte Bild erstmals so zu sehen, wie es der Künstler schuf - und in prominenter Gesellschaft.

Ein ganz anderes Bild: Ein nackter Liebesgott hat sich in das Gemälde «Brieflesendes Mädchen am Fenster» von Johannes Vermeer (1632-1675) gedrängt. Obwohl ihn der grüne Vorhang verdeckt, verändert er die ganze Bildaussage. Gut zwei Jahre nach der als Sensation gefeierten Entdeckung des Cupido ist die spätere Übermalung von fremder Hand komplett entfernt. Nun hat das weltberühmte Kunstwerk des Delfter Malers in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister Weltpremiere, in ursprünglicher Form und in prominenter Gesellschaft. Die Staatlichen Kunstsammlungen (SKD) feiern die Rückverwandlung - und ihren «neuen» Vermeer.

Das seit 2017 restaurierte frühe Meisterwerk steht im Zentrum der bisher größten Ausstellung in Deutschland zu dem bedeutendsten holländischen Maler des 17. Jahrhunderts neben Rembrandt und Frans Hals. Unter dem Titel «Vom Innehalten» sind zehn seiner Gemälde versammelt, knapp ein Drittel des gesamten ?uvres von 35. Erste Besucher der Schau, die als eines der europäischen Ausstellungs-Highlights des Jahres gilt, waren am Abend Bundeskanzlerin Angela Merkel und der niederländische Regierungschef Mark Rutte.

So viele Werke von Vermeer zusammenzubekommen, sei besonders in einer Pandemie schwierig, sagte SKD-Generaldirektorin Marion Ackermann. Für die wegen Lockdowns mehrfach verschobene Schau (bis 2. Januar 2022) wurden die Werke «Briefleserin in Blau» und «Häuseransicht in Delft» aus dem Rijksmuseum Amsterdam gewonnen, die «Frau mit der Waage» aus der National Gallery Washington, «Junge Dame am Virginal stehend» aus der National Gallery London, «Der Geograph» aus dem Frankfurter Städel, «Junge Dame mit Perlenhalsband» aus der Berliner Gemäldegalerie, das «Mädchen mit dem Weinglas» aus Braunschweig. Und die Frick Collection New York hat «Die unterbrochene Musikstunde» geliehen, laut Ackermann «zum ersten Mal an eine europäische Institution».

Merkel erinnerte beim Festakt zur Eröffnung an die «für uns alle schmerzhaften» Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Kultur. Mit viel Energie und Kreativität hätten Kuratoren dennoch Zugang zur Kunst geschaffen. «Deshalb sage ich Danke! - allen, die im Kulturbereich arbeiten, die ihren Beitrag leisten und auch dafür, dass sie durchgehalten haben.» Sie wünschte der Ausstellung «viele interessierte Besucher mit der Bereitschaft zu sehen, zu staunen und einen Moment innezuhalten». Die versammelten Vermeers seien «wichtiger Teil unserer europäischen Identität», so die Kanzlerin.

Die enge deutsch-niederländische Zusammenarbeit in der Kultur müsse gerade in Zeiten geschlossener Grenzen und Einschränkungen blühen, sagte Rutte. Und die «großartige» Vermeer-Ausstellung in Dresden markiere einen Neubeginn. «Langsam aber sicher lichtet sich der schwere Schleier, den die Corona-Pandemie über unsere Gesellschaft gelegt hat.»

Der Rundgang im Semperbau am Zwinger führt durch neun verdichtete Bereiche, die Vermeers Raumdarstellungen ähneln, beginnend mit dem künstlerischen Umfeld in Delft, das zu seiner Zeit ein Zentrum der Naturwissenschaften war, bis zu dem nach fast 280 Jahren wieder ursprünglichen Bild. Vermeers Briefleserin wurde 1742 in Paris für Sachsens Kurfürsten Friedrich August II. aus der Sammlung eines französischen Prinzen erworben, schon ohne den Cupido. Dessen Existenz ist seit einer Röntgenaufnahme 1979 bekannt, der Fund wurde 1982 veröffentlicht, sagte Galeriedirektor Stephan Koja. Seitdem ging die Wissenschaft davon aus, dass Vermeer die Rückwand des Raumes selbst übermalte.

In der von einer internationalen Expertenkommission begleiteten und von der Hata-Stiftung in Tokio geförderten Restaurierung wurden dessen Entstehung rückwärts vollzogen worden und laut Ackermann «seine Geheimnisse aufgeklärt». Die Untersuchungen offenbarten Veränderungen, die nicht zu Vermeer passten, sagte Koja. «Er war Perfektionist, der gerungen hat um Kompositionen.» Auch am Dresdner Bild sei an vielen Stellen sichtbar, wie er Gedanken wieder verwarf, andere Wege ging.

Zwei Jahre dauerte es, die nicht mal einen Millimeter dünne Übermalschicht unter dem Mikroskop zu entfernen, mit einem Skalpell, das bei Augenoperationen verwendet wird. «Man kann sogar die Pinselstriche erkennen», sagte Koja. Der stehende Amor mit Bogen, Pfeilen und zwei Masken kam nur ganz langsam zum Vorschein, er ist etwa halb so groß wie das Mädchen mit dem Brief in der Hand.

Das Bild habe nun seine ausgewogene Komposition und seinen Farbreichtum zurück und es sei auch klar geworden, wie gut es in Vermeers Gesamt?uvre passe, «wie richtig es jetzt aussieht», sagte Koja. Denn mit dem Liebesgott an der Wand werde ein inhaltlicher Kommentar sichtbar, «dass die Liebe der Treue bedarf». Der Cupido tritt in die Maske der Verstellung, «zertritt quasi Betrug und Falschheit».

Die spektakulärste Entdeckung sind die beiden Masken. «Keine strahlendiagnostische Untersuchungsmethode hat uns deren Existenz angezeigt», sagte Kuratorin Uta Neidhardt. Sie kamen erst während der Abnahme der Übermalung zum Vorschein. Und: «Es ist ein Experimentierbild, Vermeer hat darin sehr viel ausprobiert.» So verwarf er Motive im Vordergrund wieder und übermalte etwa ein großes Römerglas mit dem Vorhang. «Wie er gerungen hat, Schritt für Schritt, um zu dieser endgültigen Lösung zu kommen, ist jetzt endlich zu sehen.»

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