Henry Kissinger ist 100 geworden

Realpolitiker und Machtmensch 

Der ehemalige Außenminister der USA, Henry Kissinger, spricht bei einem Abendessen mit der deutschen damaligen Verteidigungsministerin von der Leyen im American Council on Germany (ACG) in New York. Foto: Britta Pedersen/dpa-zentralbild/dpa
Der ehemalige Außenminister der USA, Henry Kissinger, spricht bei einem Abendessen mit der deutschen damaligen Verteidigungsministerin von der Leyen im American Council on Germany (ACG) in New York. Foto: Britta Pedersen/dpa-zentralbild/dpa

WASHINGTON: Henry Kissinger blick auf ein langes Leben zurück - gespickt mit vielen außenpolitischen Erfolgen. Doch der ehemalige US-Außenpolitiker wird nicht nur bewundert. Einige verachten ihn - denn sein Name wird auch mit schmutzigen Machenschaften verbunden.

Henry Kissinger ist vielleicht der berühmteste Diplomat in der Geschichte der USA. Lange, nachdem sich der Deutschamerikaner aus der Politik zurückgezogen hat, suchten Spitzenpolitiker noch seinen Rat. Und noch heute teilt Kissinger, der am Samstag 100 Jahre alt geworden ist, gern seine Meinung zu unterschiedlichen internationalen Themen mit der Welt. Doch der ehemalige US-Außenminister ist eine kontroverse Figur. Loben ihnen die einen als brillanten Realpolitiker mit Verhandlungsgeschick, sehen ihn andere als skrupellosen Machtmenschen - ja gar als Kriegsverbrecher.

Kissinger ist mittlerweile schwerhörig und auf einem Auge blind. Er hat mehrere Herzoperationen hinter sich. Doch geistig ist er immer noch topfit - auch wenn er seine Gedanken langsam und manchmal schwer verständlich formuliert. Auch an Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Er antwortete jüngst im US-Fernsehen auf die Frage, ob Chinas Präsident Xi Jinping den Hörer abheben würde, sollte Kissinger anrufen: «Die Chancen stehen gut, dass er meinen Anruf annimmt.» Das gelte auch für Kremlchef Wladimir Putin. Auch mit seinen Ansichten zu aktuellen internationalen Themen hält er sich nicht zurück.

Zuletzt sagte er der Wochenzeitung «Die Zeit», dass er die Schuld am Ukraine-Krieg nicht bei Russland allein sehe. Er erinnerte daran, dass er schon 2014 Zweifel am Vorhaben geäußert habe, «die Ukraine einzuladen, der Nato beizutreten». Kissinger fügte hinzu: «Damit begann eine Reihe von Ereignissen, die in dem Krieg kulminiert sind.» Kissinger sprach in dem Interview weiter von einem «höchst rücksichtslosen» Angriffskrieg Russlands unter Präsident Wladimir Putin. Russland dürfe nicht gewinnen.

Geboren wurde Kissinger am 27. Mai 1923 als Heinz Alfred Kissinger in Fürth, Sohn eines deutsch-jüdischen Ehepaares. 1938 floh die Familie vor den Nazis in die USA. Kissinger wuchs dann in New York auf. Es heißt, als Jugendlicher sei er so schüchtern gewesen, dass er kaum sprach. Das könnte erklären, warum Kissinger bis heute einen starken deutschen Akzent hat. Er wurde nach der US-Einbürgerung 1943 zum Militärdienst eingezogen, kämpfte in den Ardennen und arbeitete dann in Deutschland für die US-Spionageabwehr.

Nach der Rückkehr studierte er mit Hilfe von Stipendien an der Elite-Universität Harvard Politikwissenschaften und promovierte 1954. In den Folgejahren lehrte er an der Uni und machte sich als Spezialist für internationale Politik einen Namen. 1969 holte ihn der republikanische Präsident Richard Nixon als Sicherheitsberater ins Weiße Haus. Später wurde er gleichzeitig Außenminister - und blieb zumindest letzteres auch unter Nixons Nachfolger Gerald Ford. Kissinger prägte die sogenannte Pendeldiplomatie - reiste zwischen Hauptstädten hin und her und verhandelte zwischen Konfliktparteien. Als Außenminister war er eine Art Berühmtheit, bekannt für sein Machtbewusstsein und seine Frauengeschichten.

Kissinger hat viele Erfolge vorzuweisen. Er suchte Entspannung mit China und der Sowjetunion, stiftete Frieden in Nahost, bemühte sich um Abrüstung. So fädelte er in Geheimgesprächen in der damaligen UdSSR das erste Abkommen zur strategischen Rüstungsbegrenzung (SALT I) ein. Außerdem verhandelte er 1973/74 das Ende des Jom-Kippur-Krieges aus. Es sind beeindruckende Errungenschaften. Für viele gilt Kissinger bis heute als außenpolitisches Genie.

Das ist die eine Seite der Geschichte. Kritiker sehen in ihm allerdings einen Machtpolitiker ohne Moral, der auch Diktaturen unterstützte - solange es nur seinen Interessen nützte. Dabei, so der Vorwurf, habe der Zweck die Mittel geheiligt. Er galt damals als zunehmend selbstherrlich und verschlossen. In einem Interview aus dem Jahr 1972 verglich er sich mit einem Cowboy, der allein voran reitet und die Kolonne anführt. Später bereute er diese Worte.

Neben den außenpolitischen Erfolgen gibt es eine ganze Liste an Kriegen und Krisen, in denen Kissinger eine mindestens zweifelhafte Rolle spielte. Da ist zum einen der Vietnamkrieg: Kissinger soll 1968 einen nahen Friedensschluss verhindert haben, um Nixon zum Wahlsieg zu verhelfen. 1973 mündeten seine jahrelangen Geheimverhandlungen mit dem nordvietnamesischen Unterhändler Le Duc Tho schließlich in einen Friedensvertrag. Beiden wurde der Friedensnobelpreis zugesprochen - obwohl der Krieg noch bis 1975 weiterging. Kissinger nahm den Preis an, Le Duc Tho nicht.

Umstritten ist, welche Rolle Kissinger konkret bei der geheimen Bombardierung Kambodschas während des Vietnamkriegs spielte. Kritiker werfen ihm vor, dass die Folgen seines Vorgehens der Roten Khmer in dem Land in Südostasien zur Macht verholfen haben. Auch die Unterstützung der blutigen Invasion Indonesiens in Osttimor 1975 ist ein dunkler Fleck in Kissingers außenpolitischer Karriere. Zusammen mit dem US-Geheimdienst CIA soll Kissinger 1973 außerdem in den blutigen Putsch von General Augusto Pinochet gegen Chiles gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende verstrickt gewesen sein.

Kissinger erhielt Vorladungen von Gerichten in verschiedenen Ländern, erschien aber nie. Von den Vorwürfen gegen ihn will er bis heute nichts wissen. Auf die Kritik - und speziell Kambodscha - angesprochen, reagierte er in einem Interview für das US-Fernsehen ungehalten. Das Thema der Sendung sei doch, dass er 100 Jahre alt werde, schimpfte er. Und nun komme man mit einer 60 Jahre alten Sache um die Ecke. Die jüngere Generation, die ihn verurteilt, stellte er als ignorant dar.

Nach Nixons Rücktritt blieb Kissinger Außenminister - die politische Bühne verließ er dann nach dem Amtsantritt des demokratischen Präsidenten Jimmy Carter 1977. Doch der Rückzug aus der aktiven Politik bedeutete für Kissinger nicht, sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Er gründete eine Beraterfirma, schrieb mehrere Bücher und ist trotz seines hohen Alters bis heute ein gefragter Redner, wenn es um außenpolitische Einschätzungen geht.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder
Peter Joe 29.05.23 12:50
Drahtzieher
Er ist und bleibt der Drahtzieher der geheimen Regierung. Die USA haben keine Freunde, die USA haben Interessen sagte er immer. Fuer seine Verbrechen wurde er nie zur Rechenschaft gezogen, dafuer erhielt er noch den Friedens Nobel Preis.
Jürgen Franke 28.05.23 20:00
Kissinger hatte bereits 2014
davor gewarnt, die Ukraine in die Nato aufzunehmen.
Walter Andriuet 28.05.23 19:00
@ Thomas Sylten
Ja bloody Henri hat viel Blut an den Händen, darm kann er ja kaum verreisen, ansonsten würde man ihn grad vors Gericht bringen.
Thomas Sylten 28.05.23 15:20
Er wird als "Realpolitiker" gefeiert - irgendwie ja zu Recht, hat er doch die Realitäten selber mitgestaltet, auch wenn der Begriff ja meint, er wäre mit den (bereits existierenden) Realitäten besonders geschickt umgegangen.

Aber den leider realisierten Pinochet-Putsch gegen den demokratischen Präsidenten Allende hat er orchestriert aus reinem Machtkalkul heraus - ebenso die indonesische Invasion (mit jahrzehntelangem Terror) gegen die sich in Osttimor gebildete Übergangsregierung von portugiesischer Kolonie in die Unabhängigkeit, und vieles mehr.

Er war damit geradezu die Inkarnation des amerikanischen Machtpolitikers -
auch wenn Leute wie er nach Laufbahnende aufgrund ihrer Erfahrungen plötzlich "altersweise" werden und die offenkundigen Fehler ihrer Nachfolger exakt benennen können, ohne jedoch ihre eigene Grundlagenschaffung dafür zu reflektieren.