Historikerin: Die britische Regierung will Grabenkämpfe

Englands Premierminister Boris Johnson spricht während einer Videokonferenz auf dem One Planet Summit. Foto: epa/Ludovic Marin
Englands Premierminister Boris Johnson spricht während einer Videokonferenz auf dem One Planet Summit. Foto: epa/Ludovic Marin

BRISTOL/LONDON: Weil sie während der Black-Lives-Matter-Proteste in England die Statue eines Sklavenhändlers ins Hafenbecken von Bristol geworfen haben sollen, stehen vier Demonstranten vor Gericht. Dahinter steckt auch ein Streit um die britische Geschichte.

In der Debatte um Denkmäler aus der britischen Geschichte setzt Premierminister Boris Johnson nach Ansicht einer Expertin bewusst auf Zuspitzung. «Die Regierung liebt weltanschauliche Grabenkämpfe», sagte die Historikerin und Publizistin Helene von Bismarck. «Sie will, dass wir uns alle damit beschäftigen, darüber aufregen, weil es gut von anderen Themen ablenkt.» Es sei eine ganz bewusste populistische Taktik der Regierung, Dinge grob zu vereinfachen und zu emotionalisieren, um die Stimmung anzuheizen.

Im westenglischen Bristol müssen sich an diesem Montag (11.00 Uhr) vier Demonstranten wegen Sachbeschädigung vor Gericht verantworten. Sie sollen am 7. Juni 2020 das Denkmal des Wohltäters und Sklavenhändlers Edward Colston ins Hafenbecken geworfen haben. Zum Auftakt hatten sie auf nicht schuldig plädiert. Der Denkmalsturz von Bristol hatte eine landesweite Debatte entfacht. Kurz danach hatte Johnson in der Zeitung «Daily Telegraph» angekündigt, die Statue von Ex-Premierminister Winston Churchill in London bis zum letzten Atemzug gegen linke Glaubenskrieger zu verteidigen.

«Johnson hat die Diskussion absichtlich umgedreht», sagte von Bismarck der Deutschen Presse-Agentur. Die Debatte über die Black-Lives-Matter-Bewegung und die Auseinandersetzung mit der britischen Geschichte, auch im Unterricht, habe Johnson zu einer Warnung verzerrt, dass Linksextreme Churchill abschaffen wollten. Und damit habe er weite Schichten der Gesellschaft erreicht, denen solche Ideen zuwider sind, sagte die deutsche Historikerin, die von der britischen Royal Historical Society als Fellow ausgezeichnet wurde.

Von Bismarck kritisierte, die britische Regierung leide an «imperialer Amnesie». «Es wird sich sehr selektiv an das Empire erinnert», sagte sie. Aspekte von Eroberung und Unterdrückung würden ausgeblendet und sich nur auf positive Aspekte wie Freihandel und Unternehmertum konzentriert. Auf Empfindlichkeiten werde dabei wenig Rücksicht genommen. Von Bismarck erinnerte an einen Besuch Johnsons - noch als Außenminister - in Myanmar, dem früheren Burma. Dort zitierte er das Gedicht «The Road to Mandalay» des kolonialistischen Schriftstellers Rudyard Kipling («Das Dschungelbuch»). Der britische Botschafter nannte den Vortrag vor laufenden Kameras «nicht angebracht».

«Das hat mit nüchterner Geschichte nichts zu tun», sagte von Bismarck. Einen Grund dafür sieht sie darin, dass Großbritannien keinen historischen Bruch erlitten hat im Zweiten Weltkrieg, im Gegensatz zu Deutschland mit den Erfahrungen der Nazizeit. «Großbritannien hat diese universaleuropäische Erfahrung des Besetztwerdens, der Vertreibung und auch des Zerstörens von allen bisherigen politischen Institutionen nicht erfahren.» Dies trage zum Gefühl des britischen Exzeptionalismus bei.

Zuletzt hatten sich konservative Kräfte empört über finanzielle Hilfe der Regierung für historische Stätten, bei denen Erklärungen über die koloniale Verwicklung der früheren Eigentümer ergänzt werden sollen. «Es geht nicht darum, den anderen Teil nicht mehr zu beleuchten, es geht um eine Hinzufügung», sagte von Bismarck. «Aber das alleine schon löst in manchen Kreisen große Empörung aus.» Ein Abgeordneter von Johnsons konservativer Partei forderte, Leute, die «unsere Geschichte hassen und umschreiben wollen», müssten von Steuergeldern ausgeschlossen werden.

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