Londons Nein zu Schottland-Referendum hilft Separatisten

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Die SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon stellt sich mit den neu gewählten Abgeordneten der Scottish National Party SNP zu einem Gruppenfoto vor dem V&A Museum in Dundee auf. Foto: epa/Robert Perry
Die SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon stellt sich mit den neu gewählten Abgeordneten der Scottish National Party SNP zu einem Gruppenfoto vor dem V&A Museum in Dundee auf. Foto: epa/Robert Perry

STIRLING/EDINBURGH: Wenn die Schotten am Donnerstag ein neues Regionalparlament wählen, geht es indirekt auch um die Zukunft des Vereinigten Königreichs. Die Schottische Nationalpartei (SNP) hofft auf eine absolute Mehrheit und damit auf ein Mandat für ein weiteres Referendum über die Abspaltung.

Trägt Boris Johnson unfreiwillig dazu bei, die Unabhängigkeitsbewegung in Schottland populärer zu machen? Der Politikwissenschaftler Peter Lynch von der Universität Stirling hält das für möglich. Sollte Johnson nach der Wahl zum schottischen Parlament am Donnerstag trotz einer absoluten Mehrheit für die Schottische Nationalpartei bei seinem Nein zum Referendum bleiben, spiele der britische Premier den Separatisten womöglich in die Hände, sagte Lynch der Deutschen Presse-Agentur am Mittwoch.

«Die SNP (Schottische Nationalpartei) könnte feststellen, dass dann die Zustimmung zur Unabhängigkeit wächst», so Lynch. Die starre Haltung in Westminster könne eine Trotzreaktion bei den Schotten hervorrufen. Noch seien beide Lager ungefähr gleich auf, daher sei es womöglich gar nicht im Sinne der Separatisten, schon bald grünes Licht aus Westminster zu bekommen - sondern erst, wenn ein Sieg so gut wie sicher scheine.

Erst am Mittwoch bekräftigte Johnson seine ablehnende Haltung zu einer baldigen Volksabstimmung in Schottland. «Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um ein skrupelloses und, wie ich finde, unverantwortliches zweites Referendum abzuhalten», sagte Johnson vor Reportern.

Die SNP von Regierungschefin Nicola Sturgeon, die derzeit mit Duldung der schottischen Grünen regiert, fordert seit Langem ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für den britischen Landesteil. Dazu braucht sie allerdings die Zustimmung aus London. Mit einer absoluten Mehrheit, so die Hoffnung, hätte die SNP ein klares Mandat für die Volksabstimmung und könnte mehr Druck auf London ausüben. Sturgeon hat sich zu dem gewünschten Zeitpunkt für das Referendum aber stets vage ausgedrückt. Zuletzt wollte sie nicht mehr ausschließen, dass die Schotten möglicherweise bis 2024 warten müssen, sollte die Pandemie das Land noch weiter beschäftigen.

Schottlands Konservative wie Miles Briggs hoffen darauf, dass der Unabhängigkeitsbewegung nach und nach die Luft ausgeht. Der 38-Jährige hat sich für den Wahlbezirk Edinburgh Southern beworben und verteilt Broschüren vor einem Einkaufszentrum am Rande der Stadt. Der SNP wirft er vor, vor lauter Unabhängigkeitsstreben die anderen Politikfelder wie Bildung, Gesundheit und die Wirtschaft zu vernachlässigen. «Ich denke, wenn die Leute sich deren Bilanz am Ende anschauen, abgesehen vom Thema der Unabhängigkeit, dann wird sich die SNP eine Menge Fragen gefallen lassen müssen», so Briggs. Ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit werde die Gesellschaft nur weiter spalten und Zwietracht säen, glaubt er.

Bei einem ersten Referendum 2014 hatte sich noch eine Mehrheit von 55 Prozent der Schotten gegen die Abspaltung von der Union mit England, Wales und Nordirland ausgesprochen. Die Zustimmung zur Unabhängigkeit war aber im Laufe des Wahlkampfs deutlich gestiegen.

Ähnlich wie Briggs sieht das auch Walter Chapman, ein pensionierter Deutschlehrer, der gerne Allgäu-Krimis liest. In den Augen des Labour-Anhängers sind die SNP-Politiker «Halunken», wie er auf Deutsch mit schottischem Akzent verschmitzt erklärt. Er und seine Frau seien «ganz sicher nicht an Unabhängigkeit interessiert», fährt er fort. Viel zu stark sei das Land auf die Finanzkraft Englands angewiesen. Die SNP wisse das, aber die Partei habe eben nur dieses Thema und kümmere sich ansonsten nur darum, Wahlgeschenke zu verteilen - die sich aber auf den zweiten Blick als Mogelpackung herausstellten. So seien Studiengebühren für schottische Studenten zwar abgeschafft worden, aber das führe dazu, dass bei der Studienplatzvergabe inzwischen die zahlenden ausländischen Studenten bevorzugt würden.

Emiliy Brierley, die aus England zum Architekturstudium nach Edinburgh gekommen ist, sieht das anders. «Schottland hat eine sehr viel bessere Politik, was Bildung und Gleichberechtigung betrifft», sagt die 22-Jährige. Die Offenheit für auswärtige Studenten ziehe Talente aus der ganzen Welt an und helfe, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Sie will entweder die Grünen oder SNP wählen - beide unterstützen die Unabhängigkeit Schottlands. Sollte es zu Abspaltung kommen, würde sie sich auch für die schottische Staatsbürgerschaft entscheiden.

Gar nicht schnell genug mit dem Unabhängigkeitsreferendum gehen kann es Michael Moffat. Für den 56 Jahre alten Labortechniker sitzen die Halunken nicht bei der SNP in Edinburgh, sondern in London. «Die haben schon immer gedacht, dass sie uns dominieren können», sagt er. Aber damit sei es jetzt vorbei. Seine beiden Stimmen für den Direkt- und Listenkandidaten will er bei der Wahl zwischen der SNP und der neu gegründeten Alba-Partei splitten. Die neue Partei macht Druck auf Sturgeon, die Volksabstimmung noch in der nächsten Legislaturperiode abzuhalten. Moffat würde dafür auch ein Referendum ohne Zustimmung Londons in Kauf nehmen - eine Option, vor der die Politiker aber bislang noch zurückschrecken.

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