Prozess im Zusammenhang mit Erdbeben beginnt

Menschen stehen vor einem eingestürzten Gebäude nach einem starken Erdbeben in Adiyaman. Foto: epa/Str
Menschen stehen vor einem eingestürzten Gebäude nach einem starken Erdbeben in Adiyaman. Foto: epa/Str

ISTANBUL: Die Mädchen und Jungen aus Zypern waren für ein Turnier in die Türkei gereist - dann brachte ein verheerendes Erdbeben ihr Hotel zum Einsturz. Keines der Kinder überlebte. Insgesamt starben 72 Menschen in dem Vier-Sterne-Hotel. Wer ist dafür verantwortlich?

Elf Monate nach den schweren Erdbeben in der Türkei soll in einem ersten großen Prozess der Einsturz eines Hotels und der Tod junger Volleyballer aufgearbeitet werden. Ein Hotelbesitzer und zehn weitere Angeklagte müssen sich dafür seit Mittwoch vor Gericht im südosttürkischen Adiyaman verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, für den Tod von 72 Menschen verantwortlich zu sein. Gutachtern zufolge wies das Hotel große Baumängel auf.

Zahlreiche Eltern der Opfer und Beobachter aus Nordzypern reisten zu Prozessbeginn an. Sie hielten vor dem Gericht in Adiyaman unter Tränen Schilder mit Fotos ihrer toten Kinder hoch. Rusen Karakaya, die ihre 14-jährige Tochter verloren hat, sagte: «Jeder, der das Grand Isias-Hotel gebaut hat, ist schuldig.» Die Verantwortlichen seien «Mörder» und müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Erst dann gebe es Gerechtigkeit auch für nachfolgende Generationen.

Am 6. Februar hatte um 4.17 Uhr ein Beben der Stärke 7,7 den Südosten der Türkei und Nordsyrien erschüttert, ein weiteres Beben der Stärke 7,6 folgte am Nachmittag desselben Tages. Allein in der Türkei kamen nach Regierungsangaben rund 50.800 Menschen ums Leben. Mehr als 35.000 Gebäude stürzten einem offiziellen Bericht zufolge vollständig ein, Zehntausende weitere wurden beschädigt.

Jüngstes Opfer zehn Jahre alt

Das Isias-Hotel in Adiyaman fiel schon bei dem ersten Beben in sich zusammen. Es begrub unter anderem eine Gruppe Reiseführer und zwei Volleyball-Schulteams aus Nordzypern mit 26 Kindern unter sich. Keines der Kinder überlebte. Das jüngste Todesopfer war zehn Jahre alt.

Pervin Aksoy verlor ihre 13-jährige Tochter Serin - Kapitänin der Mädchenmannschaft - bei dem Beben. Auch Aksoy wurde verschüttet, konnte sich aber selbst aus den Trümmern befreien. Sie ist zum Prozessbeginn aus Zypern angereist, doch die Rückkehr bereite ihr großen Schmerz. «Ich habe schließlich meine Tochter hier zurückgelassen», sagt sie mit Tränen in den Augen. Sie bringe es nicht übers Herz, zu den Überresten des Hotels gehen.

Dort, mitten in Adiyaman, klafft noch immer eine Lücke zwischen noch stehenden Gebäuden. Gesteinsbrocken mit Kieselsteinen gespickt liegen auf dem Boden. Die Angehörigen haben ein Plakat auf die Trümmer gelegt, auf dem sie härtere Strafen für die Angeklagten fordern. Sie hoffen, dass der Prozess um das Isias-Hotel zum Präzedenzfall wird, an dem sich zukünftige Verfahren orientieren.

Baumängel und Planungsfehler

Einem in der Anklage zitierten Gutachten zufolge gab es beim Bau des Isias-Hotels einige Unregelmäßigkeiten. So sei minderwertiges Baumaterial benutzt worden. Außerdem wurde das Hotel demnach illegal um ein Stockwerk erhöht. Ursprünglich war das 30 Jahre alte Gebäude laut Gutachten als Wohnhaus geplant gewesen, erhielt dann aber 2001 von den Behörden die Genehmigung, als Hotel weitergebaut zu werden. Davor waren die Bauarbeiten sechs Jahre lang ausgesetzt worden.

Fünf der elf Angeklagten, darunter der für den Bau verantwortliche Hotelbesitzer und der Architekt, sitzen in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft fordert unter anderem eine Verurteilung wegen bewusster fahrlässige Tötung und der Verletzung von mehr als einer Person. Dafür drohen den Angeklagten im äußersten Fall mehr als 22 Jahre Haft. Die Angehörigen, die als Nebenkläger auftreten, wollen dagegen eine Verurteilung wegen mutmaßlichen Vorsatzes erreichen, was höhere Strafen zur Folge hätte.

Die Beschuldigten waren beim ersten Prozesstag nicht anwesend, sondern wurden per Video zugeschaltet. Der 72 Jahre alte Hotelbesitzer sagte vor Gericht: «Die Beschuldigungen sind alle haltlos und eine Lüge.» Vielmehr seien Gerüchte über ihn verbreitet worden und er habe beim Bau des Hotels keine Kosten gescheut. Das Erdbeben sei zudem sehr stark gewesen.

Seine Aussage wurde immer wieder von Aufschreien der Angehörigen unterbrochen. Der Hotelbesitzer verwies zudem darauf, dass der Bau von den Behörden kontrolliert und nicht beanstandet worden sei. In einer separaten Ermittlung soll die Verantwortung der Behördenmitarbeiter geklärt werden, die Genehmigungen ausstellten.

Die Angehörige Karakaya sagt, nicht das Erdbeben habe ihre Liebsten getötet, sondern die für den Bau Verantwortlichen. «Sie haben einen Sarg gebaut.» Die Kinder sollten nun eigentlich in Zypern sein, Volleyball spielen oder mit ihren Freunden Kaffee trinken. «Stattdessen kämpfen wir um Gerechtigkeit für sie.»

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