Anstehen für die Queen oder die britischste aller Tugenden

Menschen stehen Schlange, um der britischen Königin Elizabeth II. im Palast von Westminster in London die letzte Ehre zu erweisen. Foto: epa/Olivier Hoslet
Menschen stehen Schlange, um der britischen Königin Elizabeth II. im Palast von Westminster in London die letzte Ehre zu erweisen. Foto: epa/Olivier Hoslet

LONDON: Stundenlanges Schlangestehen für einen letzten Abschied von der Queen? Viele Briten nehmen das gerne auf sich. Das geduldige Warten, bei dem man sogar unverhofft Freunde finden kann, hat Tradition.

Zu Ehren der Queen schellt um Punkt 2.00 Uhr morgens bei Colleen Connors und ihrer Tochter der Wecker. Gut zwei Stunden später reihen sich beide in die Schlange ein, um Queen Elizabeth II. noch einmal nahe zu kommen. Fünf Nächte und vier Tage lang ist der Sarg der Königin im britischen Parlament aufgebahrt und rund um die Uhr für die Öffentlichkeit zugänglich. Hunderttausende Menschen werden erwartet, die der Queen noch einmal Respekt zollen möchten.

Connors hat keine Sekunde gezögert, ihre siebenjährige Tochter Lily und sich selbst um den Nachtschlaf zu bringen. «Das hier ist Geschichte und ein einmaliger Moment, also ziehen wir es durch», erzählt sie am Donnerstag in den frühen Morgenstunden am Ufer der Themse. Die gut gelaunte Londonerin zieht auf einem kleinen roten Gefährt nicht nur die kleine Lily, sondern auch deren Hausaufgaben, weiche Jacken, Spiele und Proviant hinter sich her. Zweieinhalb Stunden stehen Mutter und Tochter schon an, einige weitere dürften folgen. Falls die Zeit reicht, soll Lily trotz des historischen Moments später noch zur Schule gehen. «Ich denke, das ist die längste Schlange, in der ich jemals stand», meint Connors.

Wer von der gestorbenen Monarchin Abschied nehmen will, dem bleibt nichts anderes, als sich in eine gigantische Warteschlange einzureihen. Wer Glück hat, steht nur fünf, sechs Stunden an, doch die Schätzungen reichen bis zu Wartezeiten von 30 Stunden. Am Donnerstag reichte die Schlange vom Parlament aus über die Lambeth Bridge und am Südufer der Themse entlang von National Theatre und Tate Modern bis über den Tower of London hinaus - das sind rund 6,5 Kilometer.

Wer könnte damit besser umgehen als die Briten? Geduldiges Schlangestehen gilt als britischste aller Tugenden, auf die man im Vereinigten Königreich stolz ist. Die Briten nehmen es also gelassen - und haben das Schlangestehen perfektioniert. So stellt die britische Regierung auf Youtube eine Karte zur Verfügung, die live den aktuellen Endpunkt der «Queue» anzeigt. An bestimmten Punkten der Schlange werden durchnummerierte Armbänder ausgegeben, so dass man die «Elizabeth Line», wie manche die Warteschlange in Anlehnung an die neueste U-Bahn-Linie tauften, kurzzeitig verlassen kann, um zur Toilette zu gehen oder sich einen Kaffee zu holen.

In einem sind sich alle, die man fragt, einig: Für niemand anderen als «Her Majesty» würden sie die Strapazen der Schlange wohl auf sich nehmen. «Normalerweise begebe ich mich nicht in Schlangen. Oder Menschenmengen. Nur in diese», sagt Nathalie Elliott, die mit einer Freundin aus Lincolnshire angereist ist. Haben es die beiden übernächtigten Frauen in der Schlange ganz nach vorne geschafft, bleiben ihnen nur wenige Sekunden vor dem Sarg der Queen.

In der ehrwürdigen Westminster Hall ist die Stimmung gedämpft. Dort strömen die Menschen in zwei Kolonnen zügig in die Halle, jeweils rechts und links am Sarg vorbei. Niemand spricht. Viele verbeugen sich kurz oder halten inne, wenn sie auf der Höhe des auf einem Podest aufgebahrten Sargs der Königin ankommen. Etliche Menschen haben feuchte Augen, manche wischen sich die Tränen aus dem Gesicht, vereinzelt ist Schluchzen zu hören.

Die Regeln sind strikt: Keinerlei Mitbringsel wie Blumen oder Teddybären sind erlaubt. Handys müssen in der Tasche bleiben, Fotos oder gar Selfies sind nicht gestattet. Auch ohne Verbote ist die Atmosphäre in der ehrwürdigen Westminster Hall mit ihrem gewaltigen mittelalterlichen Dachgewölbe und der Anwesenheit der toten Monarchin Ehrfurcht einflößend genug. Dort gegen Regeln zu verstoßen, wäre wohl sehr unbritisch.

Die Männer in historisch anmutenden Uniformen, die um den Sarg herum Wache halten, wirken wie eingefroren, keine Regung ist zu erkennen. Die Soldaten verschiedener Gardeeinheiten sowie Polizisten und Aufseher achten akribisch darauf, dass die Regeln beachtet werden.

Ein kurzer Moment der Andacht, dann landen die Trauernden wieder auf den Straßen von Westminster. Die Schwestern Yvette (59) und Helen Roberts (53) sind beseelt, als sie nach dem Abschiednehmen von ihrer Königin unter dem Big Ben herschlendern. «Ich weiß nicht mehr, wie lange ich gewartet habe», sagt Helen. Sie habe nicht darauf geachtet. «Wir haben richtig Freundschaften geschlossen», sagt Yvette aus der Grafschaft Bedfordshire. Die Stimmung in der Schlange sei gut und wohlwollend gewesen - auch so eine britische Tugend, findet sie. Die Menschen flanieren, plaudern und verweilen auf den für Autos gesperrten Straßen. Es ist, als hätte die Queen ein Straßenfest ausgerufen für alle, die ihr die letzte Ehre erweisen.

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