70 Jahre Grundgesetz

Im Anfang war die Würde

In der Senatsbibliothek Berlin stehen verschiedene Ausgaben des Gundgesetzes und Kommentare dazu im Lesesaal zur Verfügung. Foto: Kalaene Jens/Zentralbild/dpa
In der Senatsbibliothek Berlin stehen verschiedene Ausgaben des Gundgesetzes und Kommentare dazu im Lesesaal zur Verfügung. Foto: Kalaene Jens/Zentralbild/dpa

BERLIN (dpa) - Der Staat ist um des Menschen willen da: Mit diesem Satz stürzten sich nach dem Krieg ein paar Dutzend Männer und Frauen in das Wagnis, Deutschland eine Verfassung zu geben. Sie waren so erfolgreich wie niemand zuvor.

Ein Leichtgewicht war sie, wie sie da lag, mit gerade mal 1396 Gramm Gewicht und 35 Zentimeter Länge. Dabei hatte sie einige Dutzend Mütter und Väter. Noch ungewöhnlicher als die Umstände ihrer Zeugung war aber sicher der erste Satz, den sie sprach: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.»

Die Rede ist von der Urschrift des Grundgesetzes - der deutschen Verfassung, die vor 70 Jahren in Kraft trat. Ein Verfassungskonvent hatte 1948 einen Entwurf erarbeitet, der Parlamentarische Rat ihn im Mai 1949 vollendet. Nun lag das Gesetz am 23. Mai 1949 in der Bonner Pädagogischen Akademie auf dem Tisch, in Pergament gehüllt.

Europa hatte sich im Zweiten Weltkrieg «ausgekämpft», wie es der Historiker Michael Stürmer formulierte. Was blieb, waren Trümmer, auf den Straßen und in den Köpfen. Worauf sollte man einen neuen Staat bauen können? Der erste Versuch einer deutschen Demokratie war ja blutig gescheitert.

Aus Zuversicht und Pragmatismus zimmerten die Väter und Mütter des Grundgesetzes ein Provisorium. 146 Artikel sollten «dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung» geben, hieß es in der Präambel. Den Begriff «Verfassung» als Titel vermieden die Autoren, es klang zu sehr nach Patina. Stattdessen eben schmucklos: Grundgesetz.

Bis heute gilt der 23. Mai 1949 nicht als Tag einer Revolution in Deutschland. Dabei war er das durchaus. Denn die Verfassungen anderer Länder beginnen meist mit einer Art Organigramm: Der Präsident macht dies, das Parlament macht jenes, und dann und wann sind Wahlen.

Nicht so das Grundgesetz. Es beginnt in Artikel 1 mit dem zitierten Satz «Die Würde des Menschen ist unantastbar». Kein Wort zu Beginn von Amtszeiten, Wahlgängen, Hymnen. Das erste Hauptwort lautet «Würde», das zweite «Mensch». Verfassungen sind eben auch Kinder ihrer Zeit, und wenn etwas fehlte im Deutschland der 1930er und 1940er Jahre, dann war es die Idee, dass jedem Menschen Würde zukommt - unabhängig von seiner Herkunft und seiner Religion, seinen politischen Ansichten, seinem Gesundheitszustand. Der erste Satz war Feststellung und Mahnung zugleich, ein spätes «Nein!» gegenüber dem nationalsozialistischen Vernichtungsfuror.

Auch die meisten der folgenden 18 Artikel enthalten Grundrechte, mit denen Bürger sich gegen staatliche Eingriffe in ihr Leben wehren können. Erst der Einzelne, dann der Staat: Das ist - nicht nur vom Aufbau her - der Tenor des Grundgesetzes. «Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen», so lautete der erste Entwurf für Artikel 1 des Grundgesetzes.

Die DDR-Verfassung, am 7. Oktober 1949 in Kraft getreten, war hingegen konventionell gehalten. «Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik», hieß es im ersten Artikel, und jeder Satz war eine Fanfare, eine Kampfansage. Die Republik entscheide für «das deutsche Volk», tönte sie, es gebe «nur eine deutsche Staatsangehörigkeit». Die Worte «kommunistisch» oder «sozialistisch» sucht man vergebens.

Vier Jahre nach ihrer Gründung war das Volk der DDR nicht mehr einhellig der Meinung, dass die Republik in seinem Sinne entscheidet. Beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 protestierten etwa eine Million Menschen an mehr als 700 Orten, forderten freie Wahlen und ein vereintes Deutschland. Um sie niederzuhalten, rollten sowjetische Panzer durch die Straßen. Nur mit Mühe gewann der Staat wieder die Kontrolle.

Die Bundesrepublik musste sich unterdessen gegen ganz andere Feinde verteidigen. Zwei Mal - und seither nie wieder - verbot das Bundesverfassungsgericht eine Partei. 1952 traf es die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei (SRP), 1956 die linksextreme Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Die Richter in Karlsruhe beriefen sich dabei auf Artikel 21 des Grundgesetzes: Wer die «freiheitliche demokratische Grundordnung» zu beeinträchtigen oder zu beseitigen versucht, handelt verfassungswidrig. Das Gericht sah darin eine Lehre aus der Vergangenheit: «Der Vorgang einer Unterwühlung und schließlichen Beseitigung der Demokratie durch die Nationalsozialisten soll sich nicht in dieser oder ähnlicher Form wiederholen.»

Wie die Bundesrepublik mit demokratiefeindlichen Parteien zu verfahren gedachte, war nun klar. Wie aber mit einer großen Zahl von Extremisten umgehen?

Schon in den 1950ern hatten die alliierten Siegermächte Deutschland aufgefordert, Gesetze für einen Notstand zu erlassen. Doch erst die große Koalition aus Union und SPD bekam eine Zwei-Drittel-Mehrheit zusammen, um das Grundgesetz 1968 entsprechend anzupassen. 28 Artikel wurden geändert, gestrichen oder neu eingefügt, so viele wie nie zuvor oder danach. Im Krisenfall könnten Behörden leichter abhören, Länderkompetenzen würden beschnitten. Ein Notparlament aus Bundestags- und Bundesratsmitgliedern müsste das Nötigste regeln. Auch ein Einsatz der Bundeswehr im Inneren sollte fortan möglich sein - nicht nur bei Naturkatastrophen, sondern auch bei einem Aufstand.

Die protestierenden Studenten der 68er-Bewegung sahen die Bundesrepublik schon auf dem Weg zu einem autoritären Staat. Die Notstandsgesetze kürzten sie als «NS-Gesetze» ab. Doch auch der Gesetzgeber wusste um die Gefahr, dass die Befugnisse aus den Notstandsgesetzen missbraucht werden könnten. Als Gegengewicht schrieb er das Recht aller Deutscher auf Widerstand in die Verfassung, gegen jeden, «der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen» (Artikel 20). Mehr als 50 Jahre sind die Notstandsgesetze nun alt. Angewendet wurden sie nie.

Auch in der DDR wurde 1968 die Verfassung erneuert - allerdings von Grund auf. In der neuen Version war die DDR nun ein «sozialistischer Staat deutscher Nation», und damit das auch jeder verstand, kam das Wort «sozialistisch» mehr als 90 Mal im Text vor. Damit waren die Fronten also auch verfassungsmäßig geklärt. Zeit, sich einander anzunähern.

1972 unterzeichneten die beiden Staaten den sogenannten Grundlagenvertrag. Doch der CDU/CSU-Opposition im Bundestag widerstrebten «gutnachbarliche Beziehungen» mit der DDR, dem Staat der Mauerschützen und Selbstschussanlagen. Die bayerische CSU-Regierung zog nach Karlsruhe vors Verfassungsgericht - und verlor. Doch die Richter mahnten: So legal der Grundlagenvertrag auch ist, so erstrebenswert ein einträchtiges Nebeneinander auch sein mag - die deutsche Einheit müsse das Fernziel politischen Handelns bleiben.

Als die deutsche Teilung zementiert zu sein schien, in den Köpfen und in Beton, da öffnete sich 1989 das Fenster der Geschichte einen Spalt weit - gerade genug, um eine Hand hindurchzureichen. Es war die Hand, die in der Prager Botschaft anderen über den Zaun half, die Hand, die Michail Gorbatschow Helmut Kohl am Ufer des Selentschuk reichte, es war die Hand, die in die Jacketttasche griff und einen Zettel hervorzog, der beinahe sofort, unverzüglich Deutschland veränderte.

Mit einem Schlag war die DDR-Verfassung plötzlich überholt. Doch die Wiedervereinigung im Jahr 1990 stellte auch das Grundgesetz in Frage. War es jetzt an der Zeit, gemäß Artikel 146 eine neue Verfassung zu verabschieden? Die Politik entschied sich für eine andere Option, beruhend auf Artikel 23: Die deutsche Einheit sollte als Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vollzogen werden. Das neue Deutschland war nun komplett, der Beitritts-Artikel 23 wurde gestrichen.

An seine Stelle trat 1992 der sogenannte Europa-Artikel: «Zur Verwirklichung eines vereinten Europas» solle Deutschland seinen Beitrag zur Entwicklung der Europäischen Union leisten. Deutschland kann der EU von nun an leichter Hoheitsrechte übertragen.

Heute, eine Generation nach der Wiedervereinigung, ist aus dem schlanken Brevier ein properes Gesetzeswerk, aus dem Provisorium die langlebigste deutsche Verfassung geworden. 63 Mal wurde das Grundgesetz geändert, die Zahl der Wörter hat sich dabei verdoppelt. Längst gilt das Grundgesetz als ein Vorbild für andere Verfassungen, gerade was die Stellung der Grundrechte angeht. Dass am Anfang von allem die Würde derjenigen steht, die sich die Verfassung geben - dieser Gedanke ist auch nach 70 Jahren nicht veraltet.

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Jürgen Franke 21.05.19 13:12
Was andere Länder Verfassung nennen, heißt
in Deutschland eben Grundgesetz. So einfach ist der Inhalt des Redaktionsbeitrag zu verstehen.