WIEN (dpa) - Die Schließung der Balkan-Route für Flüchtlinge vor einem Jahr hat aus Sicht von Experten die illegale Migration eingedämmt, aber das Schleppergeschäft nicht im Kern getroffen.
«Sie arbeiten jetzt oft in großen, teils sehr professionellen Netzwerken mit mehreren Dutzend Leuten», sagte der Chef der Schlepperbekämpfung im österreichischen Bundeskriminalamt, Gerald Tatzgern, der Deutschen Presse-Agentur. Im vergangenen Jahr seien von den Ermittlern in Österreich 250 Schlepper identifiziert und viele auch festgenommen worden. Für die Flüchtlinge herrsche angesichts der Sorg- und Skrupellosigkeit der Schlepper oft Lebensgefahr beim Transport.
FRAGE: Hat sich die Schließung der Balkan-Route bewährt?
ANTWORT: Es kommen jetzt deutlich weniger Migranten als 2015. Aber immer noch werden in Österreich jeden Tag etwa 100 bis 150 von ihnen aufgegriffen. Die Hälfte hat uns über die Mittelmeer-Route, die andere Hälfte über die Balkan-Route erreicht. Das sind immer noch viel mehr als im Vergleich zu den langjährigen Erfahrungen vor 2015. Eine komplette Schließung ist illusorisch. Es wird immer einen Weg geben.
FRAGE: Welche Rolle spielen die Schlepper?
ANTWORT: Fast jeder erreicht Österreich mit Hilfe von Schleppern. Ein Migrant muss mit mindestens 4.000, manchmal 8.000 Dollar für eine Reise von der Türkei bis Mitteleuropa rechnen. Das Milliarden-Geschäft ist intakt.
FRAGE: Welche Verstecke lassen sich die Schlepper einfallen?
ANTWORT: Die Menschen werden in Lastwagen, in Kastenwagen, in Zug-Containern versteckt. Eine Gruppe von sieben Afghanen, gefangen in einem Zug-Container und versorgt mit einer einzigen Flasche Wasser, hat nur überlebt, weil sie per Handy die Polizei rufen konnte. Die Schlepper kommen teils aus den gleichen Herkunftsländern wie ihre Kunden.
FRAGE: Wie beurteilen sie den Türkei-Deal?
ANTWORT: Die Türkei spielt eine Schlüsselrolle im wahrsten Sinne. Sie ist Türöffner und Türschließer. Sobald die türkische Polizei nicht genau aufpasst, kommen an einem Tag Hunderte von Flüchtlingen auf die griechischen Inseln und nach Bulgarien.
FRAGE: Wie sehen sie die Entwicklung?
ANTWORT: Das Potenzial von Migrationswilligen ist ungebrochen. Das gilt speziell für Afrika. Dort setzen sich gerade Hundertausende im Sudan, im Süd-Sudan, in Ghana und im Jemen in Bewegung, um möglichst nach Europa zu kommen.
FRAGE: Welche Länder spielen als Transit- oder Zielland eine neue Rolle?
ANTWORT: Die Schweiz ist alarmiert. Sie könnte gerade für die französischsprachigen Nordafrikaner zur Ausweichroute werden. Das gilt natürlich dann auch für Frankreich.
ZUR PERSON: Gerald Tatzgern ist seit rund 15 Jahren Leiter der Schlepperbekämpfung im Bundeskriminalamt in Wien und gilt als einer der europaweiten Experten für dieses Thema.