Parlamentswahl : Die Stunde der Opfer

Kämpfer und Sympathisanten nehmen in Medellin an einem Rundgang durch die Straßen zum Abschluss der Kampagne der Partei Comunes teil. Foto: epa/Luis Eduardo Noriega A
Kämpfer und Sympathisanten nehmen in Medellin an einem Rundgang durch die Straßen zum Abschluss der Kampagne der Partei Comunes teil. Foto: epa/Luis Eduardo Noriega A

BOGOTÁ: Mehr als fünf Jahre nach Ende des Bürgerkriegs wählt Kolumbien ein Parlament, in das Opfer der Gewalt über sogenannte Friedenssitze einziehen sollen. Die Wahl gilt auch als Test für die Präsidentenwahl im Mai, bei der die Ex-Farc-Geisel Ingrid Betancort antreten will.

Die Flucht nach neun Jahren in der Geiselhaft war filmreif: 17 Tage lang schlug Jhon Frank Pinchao sich 2007 durch den kolumbianischen Dschungel, bis er auf eine Elite-Einheit der Polizei traf, die ihn herausholte. Seine Entführer von der linken Guerilla-Organisation Farc hatten ihn mit Ketten um die Beine, die Hände und den Hals gefangen gehalten.

Wenn nun am Sonntag die Parlamentswahl in Kolumbien ansteht, dann möchte der ehemalige Polizist einen Sitz erringen. «Es ist die Stunde der Opfer», sagte Pinchao, als Ingrid Betancourt, die wohl bekannteste Geisel der Farc-Guerilla, im Januar bekanntgab, noch einmal in das Rennen um die Präsidentschaft gehen zu wollen. Betancourt war vor 20 Jahren entführt worden, als die damalige Kandidatin der Grünen sich schon einmal um die Präsidentschaft bewarb.

170 Sitze im Abgeordnetenhaus und 102 Senatssitze sind bei der Parlamentswahl zu vergeben. Opfer des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts wie Jhon Frank Pinchao, der General Luis Herlindo Mendieta oder das Minenopfer Guillermo Murcia bewerben sich dabei ganz gewöhnlich oder sollen 16 sogenannte Friedenssitze für die am meisten betroffenen, vor allem ländlichen Regionen im Abgeordnetenhaus einnehmen.

Diese Sitze wurden mit dem Friedensvertrag zwischen der kolumbianischen Regierung und der Farc 2016 geschaffen, der 52 Jahre Bürgerkrieg mit rund 220.000 Toten und Millionen Vertriebenen beilegte. Millionen gelten als Opfer des Konflikts. Aber während Ex-Mitglieder der Farc mit garantierten Sitzen schon 2018 zum Zug kamen, schlägt die Stunde der Opfer nach einer Reihe von Hindernissen erst jetzt.

«Diese Wahl stellt die wichtigste Anstrengung der politischen Integration auf Bevölkerungs- und Gebietsebene seit der Verfassung von 1991 dar», sagt Alejandra Barrios, Leiterin der Wahlbeobachtungsmission. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch zu Enthaltungen und Misstrauen kommen kann, wie es in einer Analyse der «Fundación Ideas para la Paz» (FIP) heißt.

Pinchao wurde von der prominenten Farc-Geisel Betancourt dazu inspiriert, sich um einen Parlamentssitz zu bewerben. «Im Dezember 2021 kontaktierte Ingrid Betancourt mich und schlug mir vor, Kandidat für ihre Partei zu sein», sagt der 48-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. «Ich habe nicht zweimal nachgedacht.»

Beide teilen die Erinnerungen an die Gefangenschaft und mehrere Fluchtversuche. «Wir waren zusammen in mehreren Camps», sagt Pinchao der dpa. «Und haben eine Freundschaft entwickelt, die über die Gefangenschaft hinausging und bis heute anhält.»

Die Wahl am Sonntag gilt auch als Stimmungstest für die Präsidentenwahl am 29. Mai und eine Kandidatin Ingrid Betancourt. Der derzeitige Staatschef Iván Duque darf dann nicht mehr antreten, weil die Verfassung eine Wiederwahl nicht vorsieht. In jüngsten Umfragen zur Parlamentswahl lagen konservative Parteien vorne.

Die Partei «Centro Democrático» von Präsident Duque allerdings, dem Kritiker vorwerfen, den Friedensvertrag bestenfalls halbherzig umzusetzen, verlor an Kraft. Sollte Pinchao, der für Betancourts Partei «Verde Oxígeno» (Grüner Sauerstoff) kandidiert, ins Abgeordnetenhaus einziehen, würde er wieder auf Ex-Kämpfer der Farc treffen, aus der die Partei «Comunes» hervorgegangen ist.

«Es empört mich, dass meine ehemaligen Entführer mit freien Sitzen in den Kongress gekommen sind, die ihnen die Regierung zur Verfügung gestellt hat», sagt Pinchao. «Sie haben diese nicht verdient. Diese Sitze sollten für die Opfer der Gewalt sein, nicht für die Täter.» Er will sich für die Polizei und das Militär einsetzen, aber vor allem für die Opfer. Und erreichen, dass sie Entschädigung bekommen - nicht vom Staat, sondern von den Tätern.

Der General Herlindo Mendieta, Kandidat des «Centro Democrático», etwa geht noch weiter. Er ist mit dem Friedensvertrag, der ganz Kolumbien gespalten habe, auch wegen der milden Strafen für ehemalige Guerillakämpfer und deren garantierten Sitzen im Parlament, nicht einverstanden.

Die Sicherheitslage in dem südamerikanischen Land hat sich seit dem Friedensschluss verbessert, aber Tausende Ex-Farc-Mitglieder kämpfen auch immer noch gegen die Regierung und um Einfluss im Drogenhandel. Die kleinere Guerilla-Gruppe ELN ist ebenfalls immer noch aktiv.

Vor allem in ländlichen Gegenden, wo ein Machtvakuum entstanden ist, tut der Staat sich schwer, die Sicherheit zu gewährleisten. «Der Staat hätte die Kontrolle in den ehemaligen FARC-Gebieten übernehmen sollen», sagt Pinchao. Aber es seien andere illegale bewaffnete Gruppen gekommen, die heute Terror säen. «Dies ist der größte Mangel des Prozesses.» Und die Gewalt hat wieder zugenommen.

Hunderte Massaker wurden seit 2016 verübt, Hunderte gesellschaftliche Anführer und Ex-Farc-Kämpfer ermordet, eine Vielzahl von Menschen vertrieben. Dies bekommen auch die Kandidaten für die Friedenssitze zu spüren. So wurde etwa Guillermo Murcia, der während des bewaffneten Konflikts von einer Landmine schwer verletzt wurde und in dem Friedenswahlkreis in dem Department Arauca für das Parlament kandidiert, von der ELN im Februar für mehrere Stunden entführt.

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