Terror kehrt nach Moskau zurück

Mehr als 135 Tote

Volkstrauertag für die Opfer des Terroranschlags auf das Krokus-Rathaus in Russland. Foto: epa/Maxim Shipenkov
Volkstrauertag für die Opfer des Terroranschlags auf das Krokus-Rathaus in Russland. Foto: epa/Maxim Shipenkov

MOSKAU: Russland trauert um die Toten eines mörderischen Anschlags. Doch die Deutungen des Geschehens laufen zwischen Moskau und dem Westen weit auseinander.

Nach einem der schwersten Terroranschläge in der russischen Geschichte hat die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Tat mit fast 140 Toten und 150 Verletzten für sich reklamiert und mehrere Bekennerschreiben veröffentlicht. Dennoch will Russland eine Verwicklung der Ukraine sehen, gegen die Russland seit mehr als zwei Jahren einen Angriffskrieg führt. Nach Angaben des russischen Präsidenten Wladimir Putin wollten die Täter in die Ukraine flüchten, Beweise dafür legte er aber nicht vor. Kiew wies jede Beteiligung an der Tat von Freitagabend zurück. Auch die US-Vizepräsidentin Kamala Harris sieht für eine ukrainische Beteiligung «keinerlei Beweise».

Unterdessen beging Russland am Sonntag einen nationalen Trauertag. «Wer sich retten konnte, hat Glück gehabt», sagte ein Mann am Sonntag am Ort des schlimmsten Terroranschlags in Russland seit Jahren. Er selbst gehöre zu diesen Glücklichen, erzählte er der Nachrichtenagentur Tass. Zwei Tage zuvor hatten vier Bewaffnete in der Konzerthalle Crocus City Hall bei Moskau um sich geschossen und das Gebäude in Brand gesetzt. Die Menschen flüchteten in Panik.

Putin sieht Spur in die Ukraine

Putin sprach in einer vom Staatsfernsehen übertragenen Rede am Samstagnachmittag von einer angeblichen Spur in die Ukraine. Mit Blick auf die festgenommenen Verdächtigen sagte er: «Sie haben versucht, sich zu verstecken und haben sich in Richtung Ukraine bewegt, wo für sie ein Fenster für einen Grenzübertritt vorbereitet worden war.» Der ukrainische Militärgeheimdienst konterte, die Grenze sei seit langem vermint.

Die vier Männer wurden am Wochenende im russischen Grenzgebiet Brjansk festgenommen und nach Moskau gebracht. Insgesamt gab es nach Behördenangaben elf Festnahmen. Die Geheimdienste der USA und anderer westlicher Länder hatten bereits Anfang März vor einem drohenden Anschlag in Moskau gewarnt. Putin tat diese Warnungen aber als westliche Provokation ab.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wies jede Verwicklung seines Landes in den Anschlag zurück. Auch die USA erklärten, dass es dafür keinerlei Hinweise gebe. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa sagte hingegen, es sei vorschnell, die Ukraine zu entlasten.

IS bekennt sich zu Anschlag

Der IS-Propagandakanal Amak veröffentlichte hingegen als angeblichen Beweis, für den Angriff verantwortlich zu sein, ein Video, das die Attentäter am Anschlagsort zeigen soll. Zudem zeigten wurde ein Bild der angeblichen Attentäter gezeigt, deren Gesichter unkenntlich gemacht worden waren. Die Kämpfer hätten bewaffnet mit Sturmgewehren, Pistolen und Bomben Russland einen «schweren Schlag» versetzt, hieß es in der Mitteilung. Der Angriff habe «Tausenden Christen in einer Musikhalle» gegolten. Der IS bekämpft Anhänger des Christentums und betrachtet sie als Ungläubige. Terrorismusexperten stuften das Bekennerschreiben als glaubwürdig ein.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser nannte es glaubhaft, dass der IS-Ableger, die Gruppe Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK), den Anschlag zu verantworten habe. Von dieser gehe derzeit auch für Deutschland die größte Gefahr aus, sagte Faeser der «Süddeutschen Zeitung». Die ISPK-Terrorgruppe hat ihren Ursprung in Afghanistan. Khorasan steht für eine historische Region in Zentralasien, die Teile von Afghanistan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan und vom Iran umfasste.

Die in Russland festgenommenen Männer ähnelten in einigen Merkmalen den Männern in dem Amak-Video wie den gefilmten Schützen vom Tatort. In den kommenden Tagen soll vor Gericht ein Haftbefehl gegen sie beantragt werden. Videoaufnahmen zeigen, dass es bei der Festnahme auch zu Folter gekommen sein soll. So zeigt ein Video, wie einem Mann ein Ohr abgeschnitten wurde. Unabhängig waren die Aufnahmen zunächst nicht zu überprüfen.

Ein Blumenmeer am Zaun vor dem Tatort

Unterdessen wurde in Russland weiter befürchtet, dass in der ausgebrannten Ruine des riesigen Veranstaltungszentrums am Stadtrand von Moskau noch weitere Opfer gefunden werden. Die Bergungsarbeiten gingen rund um die Uhr weiter, hieß es von den Behörden. Viele Menschen in der Konzerthalle seien bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Knapp 4000 Menschen spendeten bis zum Abend Blut, um die ärztliche Behandlung der Verletzten zu erleichtern.

Am Zaun vor dem abgeriegelten Gelände standen am Sonntag Hunderte trauernde Menschen Schlange, um Blumen an einem improvisierten Gedenkort niederzulegen. Auch Spielzeug wurde niedergelegt, weil Kinder zu den Toten und Verletzten zählen. Über dem Kreml wehte die Fahne auf halbmast. Auf Leuchttafeln in der russischen Hauptstadt flackerte anstelle von Werbung die Aufnahme einer Kerze und darunter die Aufschrift: «Wir trauern. 22.03.2024.»

In dem großen Konzertsaal hätte am Freitag die russische Rockgruppe Piknik auftreten sollen. Auch eine vermisste Assistentin der Band wurde tot gefunden. Als die bewaffneten Angreifer den Saal stürmten, habe sie gerade mit ihrem Mann auf einer der oberen Besuchertribünen gestanden, erzählte eine Augenzeugin. «Wir wollten ein Erinnerungsfoto machen.» Erst habe sie die Explosionsgeräusche für lauten Begrüßungsapplaus für die Künstler gehalten, erinnert sie sich. «Aber es knallte weiter. Da habe ich sofort verstanden, dass etwas nicht stimmt.»

Selenskyj: Immer schiebt Moskau die Schuld auf andere

Der ukrainische Präsident Selenskyj wies die Versuche Putins zurück, mit unbelegten Schuldzuweisungen der Ukraine eine Mitverantwortung zuzuschieben. «Nach dem, was gestern in Moskau passiert ist, versuchen Putin und die anderen Bastarde natürlich nur, jemand anderem die Schuld in die Schuhe zu schieben», sagte Selenskyj am Samstag in seiner Videoansprache. Nach dem Anschlag habe «dieser absolute Niemand Putin» einen Tag lang geschwiegen, anstatt sich um seine russischen Bürger zu kümmern. Vielmehr habe Putin darüber nachgedacht, «wie er das in die Ukraine bringen kann».

2002 hatte ein Terroranschlag Moskau in Schrecken versetzt, der ähnlich begann wie jetzt in der Crocus City Hall: Tschetschenische Bewaffnete stürmten ein Musicaltheater; am Ende kamen 135 Geiseln ums Leben. Auch danach gab es Anfang der 2000er Jahre noch Bombenanschläge in Moskau. Beim bislang folgenschwersten Terroranschlag in Russland, der Geiselnahme in der Schule von Beslan 2004, wurden mehr als 330 Menschen getötet. Die Mehrzahl von ihnen waren Kinder.

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