Russlands Osten bietet Kremlchef Putin die Stirn

Kundgebung zur Unterstützung des verhafteten Gouverneurs Furgal, in Chabarowsk. Foto: epa/Aleksandr Kolbin
Kundgebung zur Unterstützung des verhafteten Gouverneurs Furgal, in Chabarowsk. Foto: epa/Aleksandr Kolbin

CHABAROWSK: Der Kreml hat gehofft, dass sich die Proteste ganz im Osten des Landes von allein erledigen. Weit gefehlt. Seit einem halben Jahr wird in Chabarowsk demonstriert. Was sagt Putin eigentlich dazu?

Seit einem halben Jahr schon begehrt der äußerste Osten Russlands gegen Moskau auf. Woche für Woche gehen die Menschen in der Großstadt Chabarowsk auf die Straße. «Sowas haben wir in Russland noch nicht gesehen», sagt der Moskauer Politologe Alexander Kynew. «Ich kenne kein derartiges Beispiel seit dem Zerfall der Sowjetunion.» Auslöser war die Inhaftierung eines beliebten Gouverneurs Anfang Juli. In der 20-jährigen Ära von Kremlchef Wladimir Putin hat noch nie ein Protest so lange gedauert. Und die Menschen auf der Straße rechnen dabei auch mit seiner Politik ab.

Der Student Iwan Orlow ist einer von ihnen. «Ich denke, die Regierung hat die Botschaft verstanden», spricht der 23-Jährige den weit verbreiteten Unmut an. Er sei gespannt, ob die Regierungspartei Geeintes Russland bei den Parlamentswahlen im Herbst abgestraft wird. Sie ist bei vielen als Partei der Diebe und Gauner verschrien. Diese Botschaft ist immer wieder auf Protestplakaten zu lesen.

Die Demonstrationen sollten nun aber pausieren, findet Iwan. «Es ist verdammt kalt hier.» In Chabarowsk unweit der Pazifikküste rutschten die Temperaturen dieser Tage auf bis minus 30 Grad ab.

Die Stadtverwaltung zählte zuletzt noch etwa 30 Hartgesottene, die trotz Eiseskälte für den früheren Gouverneur Sergej Furgal demonstrierten. In den wöchentlichen Mitteilungen des Rathauses schwingt die Freude mit, dass es seit dem Herbst deutlich weniger Demonstranten geworden sind. Zu Spitzenzeiten im Sommer waren Zehntausende durch die Stadt mit fast 600.000 Einwohnern gezogen.

«Das kam absolut unerwartet für Moskau», sagt der Politologe Alexander Schmeljow. Putin schwieg über Monate dazu. Der Kreml wollte den Konflikt aussitzen. Erst vor wenigen Tagen bezog er Stellung. «Es geht hier um Mord an Menschen», meinte Putin mit Blick auf den Ex-Gouverneur, den der Präsident selbst feuerte - und mit seinen Worten vorverurteilt. «Das sind ernsthafte Anschuldigungen.»

Gegen den früheren Unternehmer Furgal wird wegen Beteiligung an Auftragsmorden vor mehr als 15 Jahren ermittelt. Seit Anfang Juli sitzt er im mehr als 6000 Kilometer entfernten Moskau in Untersuchungshaft. Er bestreitet die Vorwürfe vehement.

Furgal ist Mitglied der ultranationalistischen Liberaldemokratischen Partei des Rechtspopulisten Wladimir Schirinowski. Bei der Gouverneurswahl 2018 setzte er sich gegen den Kandidaten der Kremlpartei durch. Seither ist er ein Ärgernis für Moskau. Viele Demonstranten sehen das Verfahren gegen den 50-Jährigen deshalb als politisch motiviert an. Sie wollen wenigstens erreichen, dass Furgal in Chabarowsk vor Gericht kommt und nicht in der Hauptstadt.

Putin zeigt Verständnis für den Unmut der Protestierenden, die fast acht Flugstunden von ihm entfernt leben. «Ich verstehe die Menschen, die enttäuscht sind, weil Furgal verhaftet wurde, weil sie mit ihm gerechnet haben. Sie haben ihm ihre Stimme gegeben.» Auch gegen Mitglieder der Kremlpartei werde in solchen Fällen ermittelt. «Sollen wir etwa für irgendwelche Parteien Ausnahmen machen?»

Der Kreml hat lange unterschätzt, welche Sprengkraft der Fall hat. Die Schockwellen reichten bis nach Moskau. Allerdings verlagerte sich mit den Massenprotesten im Nachbarland Belarus die Aufmerksamkeit. Belarus nehme man in Moskau als näher wahr, Chabarowsk als weit entfernt, meint der Politologe Nikolai Petrow. Moskau war dennoch überrascht von dem zivilen Ungehorsam der Menschen im Osten. «Die Leute gehen trotz Repressionen auf die Straße», sagt Schmeljow.

«Der Protest ist aber ein lokaler geblieben», so Petrow. Groß war die Sorge des Kreml, dass die Proteststimmung auch auf andere Landesteile überschwappen könnte. Immerhin ist die Unzufriedenheit groß über die Politik in Russland - und über Putins lange Amtszeit. Wegen des niedrigen Gaspreises hat sich die Wirtschaftskrise verschärft.

Der Aktivist Rostislaw Smolenski aus Chabarowsk sieht in dem Protest auch ein Aufbegehren gegen «die Machtzentrale in Moskau», weil die Menschen kein Gehör fänden. «Bei uns waren überall Moskauer Unternehmen. Furgal hat das beendet.» Er kürzte zudem den Staatsbediensteten die Rente und verkaufte die Regierungsjacht.

«Die Menschen haben mit Furgal Veränderungen gespürt», meint Smolenski. Die Chabarowsker loben vor allem die Sozialpolitik des freundlichen und volksnahen Unternehmers, dass mehr Geld in Schulen und Kindergärten geflossen ist. Er sorge für besseres Essen in Schulkantinen. Andere Beobachter sehen in dem Protest das Ende der Machtzentrale in Russland - und eine Entwicklung hin zu mehr Föderalismus.

Ungewöhnlich für Proteste in Russland war zunächst, dass die Polizei in Chabarowsk die Demonstrationen nicht auflöste - anders als in Moskau oder St. Petersburg. Doch seit Wochen erhöhen die Sicherheitskräfte den Druck. 95 Menschen wurden den Behörden zufolge schon festgenommen, 41 zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt. 320 mussten eine Geldstrafe zahlen. Aktivisten beklagen auch zunehmenden Druck auf Journalisten, die über die Protestmärsche berichten.

Furgal selbst bleibt weiter in Untersuchungshaft. Ein Gericht lehnte vor wenigen Tagen einen Antrag auf Hausarrest ab. Kurz vor den großen Feierlichkeiten zum Jahreswechsel durfte Furgal immerhin mit seiner Familie telefonieren - das erste Mal seit einem halben Jahr.

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