Brexit: Der Graben wird immer tiefer

Slogans von Brexit-Gegnern auf einer Demonstration in London am 20. Juni. Foto: epa/Andy Rain
Slogans von Brexit-Gegnern auf einer Demonstration in London am 20. Juni. Foto: epa/Andy Rain

LONDON (dpa) - In Großbritannien verhärten sich die Fronten zwischen Brexit-Anhängern und Gegnern des EU-Austritts immer mehr. Der Frust auf die Politik wächst. Auch zwei Jahre nach dem Brexit-Votum ist offen, wie das Verhältnis zum Kontinent künftig aussehen wird.

Am Tag des Brexit-Referendums am 23. Juni 2016 regnete es in vielen Teilen Großbritanniens in Strömen. «We are out» - «Wir sind raus», verkündete nach Auszählung der Stimmen BBC-Moderator David Dimbleby am nächsten Morgen im Fernsehen. Das Ergebnis war so knapp, dass ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob die historische Volksabstimmung vom Wetter entschieden wurde. Die Brexit-Anhänger hatten mit 52 zu 48 Prozent gewonnen. Die EU-Gegner seien entschlossener als die Befürworter, hieß es - sie hätten sich nicht vom Regen abhalten lassen.

Die ungefähr gleichmäßige Aufteilung der britischen Wähler in EU-Gegner und EU-Befürworter hat sich auch zwei Jahre nach dem Referendum kaum geändert. Von Reue oder Einsicht, wie in Deutschland so mancher hofft - keine Spur. Ein leichter Vorteil für die EU-Befürworter in aktuellen Umfragen ist Experten zufolge auf Bewegung bei Nichtwählern zurückzuführen. Und das, obwohl die Frustration über die schleppenden Brexit-Gespräche wächst. Doch die Schuld dafür sehen viele Brexit-Anhänger bei Brüssel.

«Ich bin durch die ganze Vorgehensweise der EU jetzt noch überzeugter als vorher», sagt Michael Macey. Der 69 Jahre alte Organist sitzt kurz vor dem zweiten Jahrestag des historischen Votums in der Sakristei einer Kirche im Arbeiterviertel Abbey Wood am östlichen Rand der britischen Hauptstadt. Im Gemeindesaal der Kirche war am Tag der Volksabstimmung ein Wahllokal eingerichtet - Macey und die Mehrheit der Wähler in Abbey Wood haben, anders als die meisten Londoner, für den Brexit gestimmt.

Die Hoffnung, Brexit-Wähler würden sich durch den komplizierten Austrittsprozess eines Besseren belehren lassen, bezeichnet der Politikwissenschaftler John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow daher als «fundamental falsch». Je mehr man sie davon überzeugen wolle, wie schwer es sei, die EU zu verlassen, desto mehr seien sie in ihrer ursprünglichen Haltung bestärkt, sagt Curtice.

Doch umgekehrt gilt das womöglich auch: Allen Aufrufen zur Einigkeit von Premierministerin Theresa May zum Trotz sind diejenigen, die in der EU bleiben wollten, ihrer Meinung treu geblieben. «Alles, was seit dem Votum geschehen ist, hat mich nur darin bestätigt, dass das ein fürchterlicher, fürchterlicher Fehler ist», sagt Derek Robinson. Der 75-Jährige ist einer von zwei anglikanischen Priestern in Abbey Wood und glühender Europäer. Mit dem Brexit-Anhänger Macey arbeitet er eng und gut zusammen, doch beide geben zu, dass sie privat mit niemandem von der jeweils anderen Seite zu tun haben. «Es ist eine Situation des «die und wir»», sagt Father Derek. «Und ich glaube nicht, dass sich das ändert.»

Gesprochen wird über den Brexit in der Kirche kaum. Auch eine Beobachtung, die sich verallgemeinern lässt. «Die Beschäftigung mit speziellen Brexit-Themen ist sehr niedrig und Wähler sind sehr desinteressiert», sagt Deborah Mattinson von der Denkfabrik Britain Thinks. Viele Menschen verstünden auch nicht, warum Großbritannien noch nicht längst ausgetreten ist. «Es dauert viel zu lange», sagt Organist Macey. «Wir hätten einfach kurz eine Erklärung abgeben und dann ohne Abkommen rausgehen sollen», findet er.

Das ist ein Szenario, das nach Ansicht vieler Experten im Chaos enden würde. Im Parlament wird derzeit über genau diese Frage heftig gestritten. Proeuropäische Abgeordnete wollen nicht zulassen, dass das Land ohne Abkommen aus der EU kracht. Erst kürzlich warnte das Finanzministerium vor Lebensmittelknappheiten und Preiserhöhungen für diesen Fall. Die EU-freundlichen Kräfte im Parlament wollen May die Hände binden, damit ein Brexit ohne Abkommen unmöglich wird.

Deborah Mattinson zufolge erhöht das den Frust aber nur noch. Das Tauziehen um Paragrafen im Parlament und die schier endlosen Verhandlungsrunden in Brüssel gehören genau zu den trockenen politischen Prozessen, denen die Brexit-Wähler mit ihrem Votum eine Absage erteilen wollten.

Die Regierung ist weiter auf dem Kurs eines harten Brexits mit Ausstieg aus Zollunion und Binnenmarkt. Die Zollunion garantiert freien Warenverkehr über Binnengrenzen hinweg. Voraussetzung sind aber gemeinsame Außenzölle - das kollidiert mit dem Anspruch der Brexiteers, eigene Handelsabkommen mit Ländern wie China, Indien und den USA zu schließen. Der Binnenmarkt sorgt dafür, dass Menschen, Geld und Dienstleistungen sich frei in der EU bewegen können. Das bringt Einwanderer ins Land und kostet Beiträge zum EU-Haushalt.

Doch die oppositionelle Labour-Partei arbeitet sich schrittweise in Richtung eines weichen Brexits vor. Eine Mitgliedschaft in der Zollunion fordert sie bereits. Zünglein an der Waage sind etwa ein Dutzend proeuropäische Abgeordnete. Auf der anderen Seite stehen etwa 60 beinharte Brexit-Anhänger bei den Konservativen, die der Premierministerin immer wieder offen mit Revolte drohen.

May laviert von Krise zu Krise. Mal sind es die Brexit-Befürworter, mal die Gegner, die ihr die Pistole auf die Brust setzen. Sie geht immer soweit auf die Forderungen ein, dass die Regierung gerade so noch einmal hält. Die Brexit-Verhandlungen in Brüssel hat das zuletzt zu Stillstand gebracht.

Das Ringen um einen harten oder weichen Brexit ist noch nicht entschieden. Am 29. März 2019 tritt das Land offiziell aus der EU aus. Noch ist unklar, welche Seite gewinnt. Doch eines ist sicher: Die Gesellschaft bleibt gespalten.

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