MOSKAU: Wenige Tage nach der von Kremlchef Wladimir Putin angeordneten Teilmobilmachung für Russlands Krieg gegen die Ukraine mehrt sich von offiziellen Stellen die Kritik am Vorgehen des Militärs. Der Chef des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten, Waleri Fadejew, forderte Verteidigungsminister Sergej Schoigu auf, das «Knüppelsystem» vieler Einberufungsstellen im Land zu beenden. Es bekämen sogar Männer Einberufungsbefehle, die keine Kampferfahrung hätten.
300.000 Reservisten sollen angesichts der Niederlagen der russischen Armee in der Ukraine mobilisiert werden, um besetzte Gebiete dort zu halten. In der Region Jakutien in Sibirien räume der Republikchef Aissen Nikolajew ein, dass Fehler gemacht worden seien in den Wehrkreisämtern. Es seien Männer eingezogen worden, die nicht unter die Mobilmachung fielen. «Es wurden Reservisten fehlerhaft eingezogen, sie müssen zurückgeschickt werden. Die Arbeit hat bereits begonnen», sagte Nikolajew.
In den sozialen Netzwerken in Russland gibt es zahlreiche Fälle, in denen Väter kinderreicher Familien, Männer ohne Kampferfahrung oder auch ältere und chronisch kranke Reserveoffiziere berichten, dass sie eingezogen worden seien. Nikolajew sagte, dass die Entscheidungen der Militärkommissariate besser überprüft werden müssen.
Unterdessen flüchteten Tausende weiter aus dem Land, um einer Einberufung zu entgehen. Der Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien im Nordkaukasus, Ramsan Kadyrow, nannte die Ausreisenden «Faulpelze», «Nichtsnutze» und «Feiglinge», die ruhig gehen sollten, weil sie der Armee nur schaden könnten. Zugleich sagte er, dass Russland eigentlich genügend Ressourcen habe ohne Reservisten. Es gebe in Russland fünf Millionen gut vorbereitete Menschen, die mit Waffen umgehen könnten.
Die Verwunderung und die Kritik in der russischen Gesellschaft sind seit Tagen groß, weil Putin Reservisten mobilisiert, nicht aber die Angehörigen der verschiedenen Sicherheitsstrukturen. Es gibt allein rund eine Million Soldaten, dazu die Nationalgarde und die Truppen des Innenministeriums sowie etwa Sicherheitskräfte des Strafvollzugs. «Wenn 50 Prozent der Mitarbeiter im Dienst gelassen werden, dann besiegt die andere Hälfte in einer Zahl von 2,5 Millionen Menschen jede westliche Armee. Und die Reserve ist nicht nötig», sagte er.
Hunderte Festnahmen bei neuen Anti-Kriegs-Protesten
Die russische Polizei ist teils brutal gegen Teilnehmer von Anti-Kriegs-Protesten vorgegangen. Allein in Moskau gab es am Samstag bei einer Demonstration gegen die Teilmobilmachung in Russland für den Krieg in der Ukraine mehr als 100 Festnahmen. In St. Petersburg wurden in sozialen Netzwerken Videos veröffentlicht, die zeigten, wie Männer in Kampfuniform und mit Helm auf Demonstranten einknüppelten.
Das Menschenrechtsportal ovd.info berichtete unter Berufung auf Augenzeugen, dass die Sicherheitskräfte Elektroschocker einsetzten. Am späten Nachmittag war von landesweit 289 Festnahmen in insgesamt 22 Städten die Rede.
Kremlchef Wladimir Putin will rund 300.000 Reservisten einziehen lassen, um nach den Niederlagen der russischen Armee in der Ukraine die dort noch besetzten Gebiete zu halten. Das hatte bereits am vergangenen Mittwoch Proteste in etwa 40 Städten ausgelöst.
Unabhängige Medien zeigten am Samstagmittag Fotos und Videos von Demonstranten unter anderen aus der Stadt Chabarowsk im äußersten Osten des Landes sowie aus Nowosibirsk, Irkutsk, Tomsk und Tschita in Sibirien. Die Menschen hielten demnach Plakate mit Aufschriften wie «Wir sind kein Fleisch» in die Höhe. Auf mehreren Aufnahmen ist zu sehen, wie sie von Polizisten abgeführt werden.
Russlands Präsident Putin hatte am vergangenen Mittwoch - sieben Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine - eine Teilmobilmachung seiner Armee angeordnet. Bei vielen Russen löste das Panik aus. Noch am selben Abend kam es zu den ersten größeren Protesten seit Kriegsbeginn. Laut dem Bürgerrechtsportal OVD-Info wurden dabei mehr als 1300 Menschen festgenommen.