Zeitungen kommentieren das Weltgeschehen am Dienstag

Foto: Adobe Stock/©elis Lasop
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«Stuttgarter Zeitung» zum EU-Kompromiss

Wladimir Putin kann sich freuen.

Die überraschende Einigkeit der Europäischen Union gegenüber dem russischen Despoten hat ein blamables Ende gefunden. Der Weg zum Ölembargo mit seinen vielen Schlupflöchern ist ein Offenbarungseid. Europa zaudert, schachert, streitet und zeigt sein hässliches Gesicht. Für den Kremlherrscher ist das eine Einladung, seinen menschenverachtenden Feldzug in der Ukraine fortzusetzen. Russlands Generäle träumen inzwischen schon wieder von einem großen Sieg in diesem Krieg.


«Berliner Morgenpost» zu Windrädern in Berlin

Windräder im Grunewald, auf den Lübarser Feldern oder an der Hönower Weiherkette? Bis heute schien das undenkbar zu sein.

Dann öffnete Umwelt- und Klimaschutzsenatorin Bettina Jarasch am Dienstag ihr Herz. Auch Landschaftsschutzgebiete wie die drei genannten sollten in Berlin nicht mehr tabu sein, wenn es um den Bau neuer Windkraftanlagen gehe. Na klar muss auch Berlin mittun bei der Energiewende und beim Klimaschutz. Aber hier ist Jarasch auf dem Holzweg. Berlin soll die Verkehrswende vorantreiben, seine Heizenergie grün machen und auf seine Dächer und Fassaden Solaranlagen setzen. Es soll effiziente Indoor-Farmen aufbauen, Erdwärme aus der Tiefe holen und kleine Windräder auf Hochhäuser stellen. Aber für 200 Meter hohe Windkraftanlagen sind Berlins Naherholungsgebiete nicht geeignet.


«Handelsblatt» zum Start des Neun-Euro-Tickets

Fast sieben Millionen Mal haben Nahverkehrsbetriebe und Deutsche Bahn schon das Neun-Euro-Ticket verkauft.

Die Zahlen klingen gigantisch und sagen doch - nichts. (.) Das Ticket ist Teil des Entlastungspakets der Regierung und fällt in die Kategorie Sozialpolitik. In der Tat entlastet es die Menschen. Fraglich ist, ob es nötig ist. (.) Für Bundesverkehrsminister Wissing rechnen sich die 2,5 Milliarden Euro Subventionen, wenn es den Nahverkehr "dauerhaft stärkt". (.) Bund und Länder wollen das Projekt auswerten, lassen sich aber leider nicht wissenschaftlich beraten, sondern von Marktforschern der DB im Auftrag der Verkehrsunternehmen. Das Ergebnis zeichnet sich schon ab: Für einen besseren Nahverkehr, der begeistert, fehlt das Geld. (.) Wichtiger wäre zu klären, was der Nahverkehr leisten soll: Dient er der Daseinsvorsorge - oder soll er Klimaretter sein? Auch sollte Schluss sein mit der Mischfinanzierung von Bund und Ländern. Es ist die kollektive Verantwortungslosigkeit, die dem Nahverkehr am meisten schadet.


«Frankfurter Rundschau» zu Wahl von Rhein und Vorwürfe gegen Feldmann

Bisweilen hält der Politikbetrieb auch in Hessen merkwürdige Zufälle bereit. Im März 2012 war Peter Feldmann der strahlende Sieger, während Boris Rhein die schwerste Niederlage seiner Karriere erlebte.

Völlig überraschend hatte der recht unbekannte SPD-Bewerber Feldmann den hessischen Innenminister Rhein (CDU) in der Stichwahl um das Amt des Frankfurter Oberbürgermeisters besiegt. Feldmann hatte im Wahlkampf den Finger in die Wunden der schwarz-grünen Stadtpolitik gelegt, hatte über Wohnungsnot, Fluglärm und Kinderarmut gesprochen. Heute, gut zehn Jahre später, ist der eine auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn, während der andere Spott und Hohn ertragen muss. Boris Rhein ist - nach Umwegen über das Amt des Wissenschaftsministers und des Landtagspräsidenten - nun hessischer Ministerpräsident. Und Peter Feldmann ist Angeklagter in einem Strafprozess und klammert sich mit einer Penetranz an sein Amt als Oberbürgermeister, dass es zum Fremdschämen ist.


«De Standaard»: Europa darf Sanktionen gegen Russland nicht lockern

BRÜSSEL: Die belgische Zeitung «De Standaard» kommentiert am Dienstag das Angebot des russischen Präsidenten, in Abstimmung mit der Türkei den Export von Getreide aus ukrainischen Häfen zu erleichtern:

«Die ukrainische Getreidernte kann nicht exportiert werden, solange die Häfen im Schwarzen Meer von russischen Kriegsschiffen blockiert sind. Nun will Russlands Präsident Getreideschiffen freie Durchfahrt gewähren, sofern die Sanktionen gegen sein Land aufgehoben oder zumindest gelockert werden. (...)

Dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bereit ist, Wladimir Putin zu helfen, wenn er dadurch bei anderen Ländern im Nahen Osten in einem guten Licht dastehen könnte, ist gut möglich. Aber es ist natürlich unvorstellbar, dass Europa auf diese Provokation reagiert und die Sanktionen gegen Russland lockert. Eher das Gegenteil ist der Fall: Die letzte Zurückhaltung, Moskau weiter zu isolieren, wird fallen. Dies wird den Konflikt verschärfen und die Komplexität der Probleme auf der Weltbühne vergrößern. Es wird den Frieden nicht näher bringen. Und genau das ist es, was Putin will.»


«Hospodarske noviny»: Deutschland handelt übervorsichtig

PRAG: Zur Diskussion über deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine schreibt die liberale Wirtschaftszeitung «Hospodarske noviny» aus Tschechien am Dienstag:

«Im Unterschied zu Polen, Tschechien, der Slowakei und den baltischen Staaten hat Deutschland bisher kein einziges Stück schwerer Waffen an Kiew geliefert. Zwar hilft der demokratische Westen der Ukraine, aber die Einigkeit, die sich nach dem Beginn der russischen Aggression am 24. Februar gezeigt hatte, scheint passé zu sein. Die Deutschen handeln übervorsichtig. In der Zukunft könnte sich diese Vorsichtigkeit rächen, denn gerade Länder wie Polen werden Deutschland auch bei der Lösung anderer Probleme Europas weniger ernst nehmen als bisher. (...) Und sollte die Ukraine am Ende mit ihrer Verteidigung scheitern (...), wird es nur allzu einfach sein, mit dem Finger auf die Schuldigen zu zeigen.»


«El País»: Ausgang der Stichwahl in Kolumbien ungewiss

MADRID: Die spanische Zeitung «El País» kommentiert am Dienstag die kommende Stichwahl um das Präsidentenamt in Kolumbien:

«Die erste Wahlrunde in Kolumbien ging an den linken Gustavo Petro (40,8 Prozent). Sein Sieg war weniger überraschend als der Erfolg des Populisten Rodolfo Hernández, der es mit 28 Prozent und vielen Stimmen von rechts ebenfalls in die Stichwahl am 19. Juni schaffte. Die beiden Kandidaten sind ideologisch jeweils am gegenüberliegenden Ende des politischen Spektrums angesiedelt und Ausdruck des Wunsches vieler Wähler nach Veränderung. Grund ist die tiefe Unzufriedenheit in der Gesellschaft, die durch die Folgen der Corona-Pandemie weiter verarmt ist. Dabei wirft der Erfolg des Populisten Hernández, der teilweise in die Fußstapfen von Donald Trump tritt, Fragen auf. Der drittplatzierte rechte Kandidat Federico Gutiérrez rief gleich am Wahlabend zur Wahl von Hernández auf. Petro hat nur dann eine Chance gegen eine populistische Rechte, wenn er neben Stimmen der Mitte auch diejenigen, die bisher nicht für ihn gestimmt haben, davon überzeugen kann, dass sein Sieg Verbesserungen für alle bringen würde.»


«Dagens Nyheter»: Schweden muss bei Erdogan kühlen Kopf bewahren

STOCKHOLM: Die liberale schwedische Tageszeitung «Dagens Nyheter» (Stockholm) kommentiert am Dienstag die Blockadehaltung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei der Nato-Norderweiterung:

«Die Gespräche mit der Türkei werden fortgesetzt. Ehrlich gesagt gibt es aber recht wenig zu besprechen. Schwedens Regierung kann natürlich unter keinen Umständen politische Flüchtlinge ausweisen, weil der türkische Präsident das fordert. Schweden ist ein Rechtsstaat, und es sind nicht die Minister, die bestimmen, wem Asyl gegeben wird. Was ist es also, was Erdogan will? Nächstes Jahr ist Präsidentschaftswahl in der Türkei, die Wirtschaft befindet sich in einem beklagenswerten Zustand. Die Leute werden ärmer. In der Situation ist der türkische Nationalismus eine besonders wirksame Waffe im Kampf um den Machterhalt. Da passen flammende Angriffe gegen das Ausland gut. Für Schweden und Finnland gilt es dabei vor allem, einen kühlen Kopf zu bewahren. Kurzfristig hat Ankara alle Möglichkeiten, den formellen Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands hinauszuzögern. Aber auf Dauer hätte das einen hohen Preis.»


«Tages-Anzeiger»: Ohne USA hätte Ukraine schon kapitulieren müssen

ZÜRICH: Zur Unterstützung der Ukraine durch die EU-Staaten heißt es am Dienstag im Zürcher «Tages-Anzeiger»:

«Die EU ist zwar großzügig, was Liquiditätshilfen für die Ukraine oder die unbürokratische Aufnahme der fünf Millionen Vertriebenen betrifft. Wenn es aber um die konkrete Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Aggressor geht, ist das Bild trüb.

Ohne die großzügige Unterstützung der USA hätte die Ukraine wohl längst kapitulieren müssen. Die Amerikaner liefern etwa zehnmal so viel Kriegsgerät wie alle Europäer zusammen. Auch Ex-Mitglied Großbritannien hebt sich mit umfangreicher Unterstützung positiv von der EU ab. Balten und Polen tun, was sie können.

In Italien, Frankreich und Deutschland sähen aber einige lieber eine schnelle Kapitulation der Ukraine, um rasch zur Tagesordnung zurückkehren und die lukrativen Geschäfte mit Russland wieder aufnehmen zu können. Besonders auffällig ist die deutsche Regierung, die immer wieder neue Vorwände findet, um der Ukraine kein schweres Kriegsgerät liefern zu müssen.»


«De Telegraaf»: Niederlande können russischen Lieferstopp verkraften

AMSTERDAM: Zum Stopp russischer Gaslieferungen an die Niederlande schreibt die Amsterdamer Zeitung «De Telegraaf» am Dienstag:

«Der Stopp des Exports von russischem Gas ist der Auftakt für einen Test der Widerstandskraft der niederländischen Wirtschaft. Allerdings ist die plötzliche Ankündigung des russischen Staatsunternehmens Gazprom, zwei Milliarden Kubikmeter Gas nicht zu liefern, nach Einschätzung von Ökonomen kein Grund, sich den Kopf zu zerbrechen. Das ist ärgerlich, aber zu verkraften. Das (niederländische) Unternehmen GasTerra hat außerhalb Russlands genügend Gas für die kommenden Monate eingekauft, in jedem Fall bis Oktober. Größere wirtschaftliche Probleme erwarten Ökonomen aber für den Fall, dass Präsident Putin den Stopp der Belieferung der Niederlande - nach Bulgarien, Polen und Finnland - als weiteren Schritt zu einer strategischen Gasblockade gegen Europa betrachtet und Großverbraucher wie Deutschland und Italien nicht mehr versorgt werden. Das würde unmittelbar zu enormen Preissteigerungen führen.»


«NZZ»: Bachelets China-Besuch war für viele enttäuschend

ZÜRICH: Die «Neue Zürcher Zeitung» kommentiert am Dienstag den Besuch der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet in China:

«Menschenrechtsorganisationen, Opfer von Chinas Parteidiktatur und ihre Angehörigen hatten große Hoffnung in sie gesetzt - und wurden enttäuscht. Bachelet hat es versäumt, die Menschenrechtsverbrechen in China klar zu benennen. Dabei wäre genau das ihre Aufgabe und ihr grösster Hebel gewesen: öffentlichen Druck herzustellen.

Dazu kommt, dass ihr Büro noch immer einen Bericht zu Xinjiang zurückhält, der seit Sommer letzten Jahres vorliegen soll. Im September wird klarwerden, ob sie zur Wiederwahl als Menschenrechtskommissarin antritt - oder ob am Ende ihrer Karriere der schwere Vorwurf zurückbleiben wird, sie habe sich zur Drahtpuppe Xi Jinpings machen lassen. (...)

Will Bachelet ihre Glaubwürdigkeit und die ihres Amtes wiederherstellen, muss sie den Bericht ihres Büros zu Xinjiang nun rasch veröffentlichen. Darin muss sie ihren Besuch als typisches Beispiel dafür darstellen, wie China unabhängigen Beobachtern den Zugang zu Xinjiang versperrt und stattdessen eine heile Welt inszeniert. Wenn Bachelet weiter schweigt, macht sie sich zur Komplizin.»


«Wall Street Journal»: Bidens zwiespältige Haltung hilft Putin

NEW YORK: Zur Debatte um mögliche Lieferungen von Mehrfachraketenwerfern durch die US-Regierung an die Ukraine schreibt das «Wall Street Journal»:

«Manchmal ist es schwer zu sagen, ob Präsident Biden und seine Strategen wollen, dass die Ukraine ihren Verteidigungskrieg gegen Russland gewinnt, oder ob sie nur überlebt, um einen Waffenstillstand zu unterzeichnen, bei dem ein größerer Teil ihres früheren Territoriums unter russischer Kontrolle steht. (...) Die Russen haben Artillerie und Raketen, die in Reichweite und Feuerkraft überlegen sind, und können den ukrainischen Truppen schreckliche Verluste zufügen. (...)

Das Pentagon hat durchblicken lassen, dass die USA der Ukraine bald einige Mittelstrecken-Raketensysteme zur Verfügung stellen könnten, aber Biden sagte am Sonntag, dass «wir der Ukraine keine Raketensysteme schicken werden, die (russisches Territorium) treffen könnten». (...) Wieder einmal machen die USA ein präventives Zugeständnis, das Russland damit davonkommen lässt, die Ukraine und den Westen wirtschaftlich stärker unter Druck zu setzen, ohne eine Reaktion befürchten zu müssen. So lässt sich kein Krieg gewinnen und nicht einmal eine Pattsituation zu günstigen Bedingungen für die Ukraine erzwingen.

Putin hat seine Absicht noch nicht aufgegeben, Kiew zu stürzen und die Nato direkt zu bedrohen, und Bidens zwiespältige Haltung bei der Unterstützung der Ukraine bestärkt den Russen in dem Glauben, dass er immer noch einen strategischen Sieg erringen kann.»

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