Zehn Jahre nach dem Flüchtlingsdrama

Ernüchterung auf Lampedusa

Kreuze, die aus den Überresten der auf der Insel gelandeten Boote gebaut wurden, schmücken das Blumenbeet, in dem die Opfer der Schiffbrüche auf dem Friedhof von Lampedusa begraben sind. Foto: epa/Ciro Fusco
Kreuze, die aus den Überresten der auf der Insel gelandeten Boote gebaut wurden, schmücken das Blumenbeet, in dem die Opfer der Schiffbrüche auf dem Friedhof von Lampedusa begraben sind. Foto: epa/Ciro Fusco

LAMPEDUSA: Mehr als 360 Migranten ertranken 2013 bei einem Bootsunglück vor Lampedusa. Zehn Jahre später wagen weiter zahlreiche Menschen die Überfahrt von Afrika nach Europa. Das Flüchtlingscamp war gerade erst wieder völlig überfüllt. Auf der Insel herrscht Ernüchterung.

Vor zehn Jahren blickte die Welt nach Lampedusa: Am 3. Oktober 2013 wurde die kleine Mittelmeerinsel von einem ihrer schlimmsten Bootsunglücke heimgesucht. Mehr als 360 Menschen kamen bei dem Schiffbruch eines Migrantenbootes auf dem Weg von Afrika nach Europa nachweislich ums Leben. Zahlreiche Särge füllten daraufhin den Hangar des Flughafens von Lampedusa - zwischen den langen braunen lösten vor allem die kleinen weißen Kindersärge Bestürzung aus.

Das völlig überfüllte Boot mit rund 500 afrikanischen Migranten hatte vor der Nachbarinsel Isola dei Conigli Feuer gefangen. Einige Menschen sollen auf dem Schiff eine Decke angezündet haben, um so ein Fischerboot auf sich aufmerksam zu machen. Das Feuer breitete sich rasant aus, das Schiff kenterte.

Gleich nach der Katastrophe waren konkrete Lösungen gefordert worden, um weitere derartige Unglücke zu verhindern. Geändert hat sich laut Experten allerdings bis heute nicht allzu viel. Auch angesichts der aktuellen Lage - zuletzt kamen erneut Tausende Bootsflüchtlinge auf Lampedusa an - sind zehn Jahre später viele Menschen auf der Insel desillusioniert.

Direkt nach dem Unglück vor zehn Jahren forderten Politiker und Verantwortliche Lösungen. «So eine Katastrophe darf es nicht wieder geben», sagte der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bei seinem Besuch auf der Insel. Der Notstand Lampedusas sei ein europäischer, Europa dürfe sich nicht abwenden. Die Hoffnungen waren groß. Doch schon kurz nach Barrosos Besuch kam es am 11. Oktober zu noch einem Schiffbruch mit vielen Toten.

Eine direkte Antwort auf das Unglück von 2013 war die Operation «Mare Nostrum», an der ausschließlich die italienische Marine und Küstenwache beteiligt waren. Ziel der Operation war die Seenotrettung von Menschen, die auf Booten das Mittelmeer in Richtung Italien überqueren. Seit Ende 2013 retteten die Einsatzkräfte mit zwei Dutzend Schiffen rund 150.000 Menschen.

Nach knapp einem Jahr wurde die Operation allerdings eingestellt, und private Helfer sprangen ein. Auch heute fordern zivile Seenotretter eine ähnlich große Operation zur Rettung auf hoher See. Angesichts zuletzt stark gestiegener Zahlen an Bootsmigranten will Rom diesmal aber einen breiteren Ansatz: Die Regierung unter der ultrarechten Ministerpräsidentin Giorgia Meloni verlangt gemeinsame EU-Einsätze, bei denen wenn nötig auch die Marine eingreifen soll - nicht in erster Linie, um zu retten, sondern um Migranten davon abzuhalten, überhaupt nach Italien zu kommen.

Trotz der großen Ankündigungen in der Vergangenheit kam es seit 2013 immer wieder zu Schiffsunglücken. Seit 2014 werden nach offiziellen UN-Zahlen mehr als 28.100 Menschen im Mittelmeer vermisst, die vermutlich ertrunken sind. Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge sind 2023 bereits etwa 186.000 Menschen über das Mittelmeer in Europa angekommen. Von diesen seien mit 130.000 die meisten in Italien registriert worden. Wegen ihrer Nähe zur nordafrikanischen Küste gehört Lampedusa zu den Brennpunkten der Migration nach Europa.

«Zehn Jahre nach dem schrecklichen Schiffbruch vor Lampedusa ist die humanitäre Krise nach wie vor ungebrochen und das Mittelmeer bleibt für Menschen auf der Flucht tödlich», so die Europa-Direktorin der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung (IFRC), Brigitte Bischoff Ebbesen.

Vielen auf Lampedusa kommen daher die Worte der derzeitigen EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bei ihrem kürzlichen Besuch auf der Insel angesichts der aktuellen Migrationskrise bekannt vor. Denn nach zehn Jahren steht Lampedusa erneut im Fokus. Mitte September erreichten mehrere Tausend Bootsmigranten Lampedusa. An nur einem Tag kamen mehr als 5000 Menschen auf der Insel mit gut 6000 Einwohnern an - so viele wie noch nie innerhalb von 24 Stunden. Das Erstaufnahmelager war zeitweise maßlos überfüllt.

Bei ihrem Besuch mit Meloni stellte von der Leyen einen 10-Punkte-Plan vor, um die irreguläre Migration nach Europa einzudämmen. Für die Bewohner Lampedusas und Experten sind die Worte der Spitzenpolitiker ein Déjà-vu. Die Forderungen sind ihnen nicht neu.

Nach den Besuchen aus Brüssel sollte für Lampedusa immer alles anders und besser werden. «Wir erinnern uns gut an Barrosos berühmte Worte», sagte Vito Fiorino, ein Eisdielenbesitzer auf Lampedusa, der nach dem Unglück vor zehn Jahren 47 Menschen aus dem Meer rettete, italienischen Medien. «Er sagte: «Das sollte nie wieder passieren». Aber in zehn Jahren hat sich nichts geändert - die Tragödien ereigneten sich immer wieder, die Menschen kamen wieder.»

Die Einreise in Europa von Flüchtlingen und Migranten sei heute nicht sicherer als vor zehn Jahren, im Gegenteil, sagt auch Christopher Hein, Professor für den Bereich Migration und Asyl an der Luiss-Universität in Rom. «Möglichkeiten der legalen und geschützten Einreise sind nach wie vor äußerst gering.» Von der Leyens 10-Punkte-Plan ändere nichts an der Situation. Hein plädiert für eine Erweiterung der Wege zur legalen Einreise. Konkrete Lösungen seien immer wieder angekündigt, aber nicht in praktisches Handeln umgesetzt worden.

Den EU-Staaten ist es bis heute nicht gelungen, eine umfassende Reform des europäischen Asylsystems endgültig zu verabschieden. Seit Lampedusa wieder einmal im Fokus des Weltgeschehens steht, werden von italienischen und europäischen Politikern erneut zahlreiche Vorschläge gemacht, um das Sterben im Mittelmeer und das Leid auf der kleinen Insel zu stoppen. Auf die Hoffnung vor einigen Jahren folgt jedoch heute Enttäuschung. Zu oft haben Menschen wie Vito Fiorino schon die gleichen Worte wieder und wieder gehört. «Geändert hat sich hier trotz aller schönen Worten nie etwas.»

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