«Wunder von Tripolis»: Zehn Jahre nach Libyens Flugzeugunglück

Das Foto vom 13. Mai 2010 zeigt den 8-jährigen niederländischen Jungen Ruben van Assouw, der im Al-Khadra-Krankenhaus in Tripolis gepflegt wurde. Foto: epa/Tripoli Post
Das Foto vom 13. Mai 2010 zeigt den 8-jährigen niederländischen Jungen Ruben van Assouw, der im Al-Khadra-Krankenhaus in Tripolis gepflegt wurde. Foto: epa/Tripoli Post

TRIPOLIS/AMSTERDAM: Nach dem Absturz eines Passagierjets in Libyen im Jahr 2010 stehen Retter vor einem gewaltigen Trümmerfeld im Sand. Nur ein neunjähriger Junge überlebt die Katastrophe mit großem Glück. Zehn Jahre später lebt seine außergewöhnliche Geschichte in einem Roman weiter.

Es scheint ein Langstreckenflug wie jeder andere zu sein, als die Afriqiyah Airways-Maschine sich am Morgen des 12. Mai 2010 dem Flughafen von Tripolis nähert. Die meisten der 104 Menschen an Bord sind Niederländer, die von ihrem Urlaub in Südafrika über die libysche Hauptstadt nach Hause reisen wollen. Aber der Flug aus Johannesburg endet tödlich: Der Airbus A330 stürzt ab, fast alle Insassen sind sofort tot. Nur ein neunjähriger Junge überlebt.

«Wunder von Tripolis» taufen Medien den kleinen Ruben, dessen Eltern und Bruder ums Leben kommen, der aber mit mehreren Knochenbrüchen aus den Trümmern gerettet werden kann. Zehn Jahre nach der Katastrophe in der kargen Wüstenlandschaft Libyens beschäftigt sein Schicksal weiter. Ein viel beachteter amerikanischer Roman wurde von der Tragödie inspiriert. Und Ruben aus Tilburg in den Niederlanden bleibt der seltene Fall eines Kindes, das als einziges Opfer mit großem Glück einen besonders verheerenden Flugzeugabsturz überlebt.

Nach den Bildern vom Absturzort schien schwer vorstellbar, dass im 800 Meter langen Trümmerfeld überhaupt Überlebende gefunden würden. Retter stiegen im Sand über verstreute Kleidung und zerstörte Flugzeugteile, nur das bunt lackierte Seitenleitwerk ragte in die Luft. Der Passagierflieger hatte rapide an Höhe verloren und war mit einer Bodengeschwindigkeit von 260 Knoten (etwa 480 Kilometer pro Stunde) nicht weit entfernt von der Landebahn eingeschlagen.

Fast drei Jahre vergingen, ehe die libysche Flugaufsichtsbehörde den Absturz in einem Bericht aufarbeitete. Der Jet flog demnach in zu niedriger Höhe auf die Landebahn zu, die wegen Nebelschwaden um 6 Uhr morgens nicht gut sichtbar war. Als der Co-Pilot durchstarten wollte, habe der Pilot ohne Absprache das Ruder übernommen, die Flugzeugnase nach unten gelenkt und so den Absturz herbeigeführt. Seine Leistung sei wegen Müdigkeit «wahrscheinlich beeinträchtigt» gewesen, hieß es.

Die Tage nach dem Absturz müssen für den kleinen Ruben, der noch im Krankenbett fotografiert, gefilmt und interviewt worden war, traumatisch gewesen sein. Abgeschirmt von der Öffentlichkeit wuchs er dann in den Niederlanden auf. Ingrid van Assouw, die Tante des Jungen, kümmerte sich um den Neunjährigen. Lange fühlte sie es als ihre Pflicht, Ruben zu schützen, sagte sie im vergangenen Jahr in einem TV-Interview.

Kurz nach der Katastrophe hatte die Boulevardzeitung «De Telegraaf» Kontakt mit dem Krankenhaus aufgenommen und sogar mit Ruben telefoniert, noch bevor seine Tante bei ihm sein konnte und noch bevor er überhaupt wusste, dass seine Familie ums Leben gekommen war. Das Interview mit dem Jungen sorgte für ungeheure Empörung in den Niederlanden. «Schamlos» und «unverantwortliche Sensationsmache» warfen Politiker und Bürger der Zeitung vor. Tausende kündigten ihre Abos. Das Blatt entschuldigte sich.

Ruben habe erst viel später das Interview gelesen, sagte seine Tante im TV. «Darüber ist er später wütend und traurig gewesen.» Kinder müssten nicht unter Druck gesetzt werden. «Ich habe mich damals bewusst entschieden, ihn aus der Öffentlichkeit zu halten.» Unter den Toten waren auch 13 Südafrikaner, ein Deutscher und zwei Österreicher.

Rubens außergewöhnliche Geschichte lebt heute im Roman der US-Autorin Ann Napolitano weiter, die über acht Jahre eine fiktive Fassung der Tragödie schrieb. «Dear Edward» erzählt die Geschichte eines Zwölfjährigen, der mit seinem Bruder und seinen Eltern von New Jersey nach Los Angeles fliegt. Der Airbus A321 stürzt in Colorado ab, 191 Menschen sterben. Edward, der einzige Überlebende, wird als «Wunderkind» berühmt. In Obhut seiner kinderlosen Tante und seines Onkels beginnt er schließlich, sich ein neues Leben aufzubauen.

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